Künstliche Intelligenz

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Machine Learning ist schon seit mehreren Jahren ein Thema in der Versicherungsbranche, aber mit der Lancierung von ChatGPT Ende November 2022 hat KI und insbesondere generative KI (GenAI) nochmals richtig an Fahrt aufgenommen. Fast in jedem Kund:innengespräch wird mittlerweile über GenAI gesprochen. Da drängt sich die Frage auf: «ist die Versicherungsbranche bereit für GenAI?» und «wie gehe ich vor, um ein GenAI-Projekt zu lancieren?» Beide Fragen wollten wir nachfolgend beleuchten.

KI revolutioniert die Arbeitswelt

Mit generativer KI lassen sich unter anderem Texte, Bilder, Videos, Analysen oder Programme erstellen. Und das Schöne daran ist, dass keine komplexe Syntax benötigt wird, sondern die Abfrage bzw. Anweisung (Prompt) in der natürlichen Sprache verfasst und an das KI-System zur Interpretation übergeben werden kann. Kein Wunder also, dass die Euphorie gross ist und Unternehmen möglichst rasch von diesen neuen Möglichkeiten profitieren möchten. Doch wie gut ist die Branche überhaupt auf die Einführung von KI-Anwendungen vorbereitet? In einer von adesso in Auftrag gegebenen Studie Ende 2023 wurden Schweizer Unternehmen dazu befragt.

Ein Auszug der Antworten ist in Abbildung 1 wiedergegeben.

Die Antworten der Teilnehmenden bezüglich ihrer Readiness für KI-Anwendungen kann in drei nahezu gleichmässige Segmente aufgeteilt werden: 31 Prozent geben an, noch nicht genügend vorbereitet zu sein, 35 Prozent gehen davon aus, genügend und 34 Prozent sogar gut bis sehr gut vorbereitet zu sein. Somit zeigen die Ergebnisse ein eher positives Bild hinsichtlich der Fähigkeit, KI-Anwendungen zu erstellen und einzuführen. Dieses Ergebnis erstaunt uns zugegebenermassen ein wenig. Denn in der gleichen Befragung wurde auch nach den grössten Herausforderungen bei der Einführung von KI-Anwendungen gefragt. Im Ergebnis zeigt sich, dass die Unternehmen Sicherheitsrisiken, Compliance und rechtliche Rahmenbedingungen sowie die Qualität von Daten-In- und -Output als die Top 5-Herausforderungen ansehen. Bei all diesen Themen handelt es sich um Aufgaben, die sich nicht mal so eben lösen lassen, sondern ein sorgfältiges, unternehmensübergreifendes Vorgehen erfordern. Dass in zwei Dritteln der Unternehmen diese Herausforderungen bereits mehrheitlich gelöst sind, würden wir aufgrund unserer Erfahrung eher kritisch hinterfragen.

Zur KI-Anwendung in 4 Schritten

adesso ist in viele KI-Projekte involviert und hat aus dieser Erfahrung ein Vorgehen in 4 Schritten entwickelt, wie KI-Anwendungen erfolgreich eingeführt werden können (Abbildung 2).

Schritt 1:

Mit der KI-Strategie werden die Grundlagen für den weiteren Auf- und Ausbau der Aktivitäten gelegt. Sie steht daher am Anfang der Aktivitäten und bezieht alle Stakeholdergruppen mit ein. Typische Fragestellungen, die mit der KI-Strategie behandelt werden, sind die folgenden:

  • Zielsetzungen: Zentral ist selbstverständlich die Frage, welche Ziele mit KI erreicht werden soll. Ziele können einerseits in die Richtung der Steigerung von Effizienz und Effektivität, andererseits in die Richtung eines Ausbaus des Serviceangebots (neue Produkte) gehen. Ein zugrundeliegender Business Case mit messbaren KPIs ist in jedem Fall zu definieren.
  • Einsatzgebiete: Ein weiterer Punkt, der in der Strategiephase geklärt werden muss, ist das geplante Einsatzgebiet. Zentral ist die Frage, ob die KI-Anwendung nur innerhalb des Unternehmens eingesetzt wird oder ob es auch Einsatzgebiete gibt, bei denen Kund:innen oder Partner:innen die Anwendung nutzen. Als Ergebnis resultiert eine priorisierte Long-List von Anwendungsfällen (Use Cases).
  • Datenquellen: Jede KI-Anwendung basiert auf Daten. Daten sind daher der zentrale Schlüssel für eine erfolgreiche KI-Umsetzung. In den Überlegungen zur KI-Strategie muss daher festgehalten werden, ob nur auf interne Daten oder auch auf externe Datenquellen zugegriffen werden soll und ob diese sogar kombiniert zur Anwendung kommen sollen.

Schritt 2:

Die KI-Architektur baut auf den Ergebnissen von Schritt 1 auf. Die Architektur beschreibt insbesondere, welche Daten in welchen Systemen abgebildet und welche Tools dabei eingesetzt werden.

  • Datenhaltung: Zu definieren ist, auf welcher Plattform oder Plattformen Daten gehalten werden und welche Tools über welche Schnittstellen darauf zugreifen.
  • Datenverfügbarkeit: Je nach Anwendungsfall und Einsatzgebiet stellt KI unterschiedliche Anforderungen an die Datenhaltung. Zu prüfen sind z.B. Performance, Versionierung bzw. Historisierung, Standardisierung, Konsolidierung und Qualitätssicherung.
  • Anwendungen: Letztendlich müssen in der Regel auch neue Tools beschafft werden. Da der Markt bereits vielfältige Angebote bereitstellt, ist eine saubere Evaluation hinsichtlich der eigenen Anforderungen vorzunehmen, um eine langfristige Investitionssicherheit zu gewährleisten.

Schritt 3:

Im dritten Schritt muss zwingend beleuchtet werden, welche regulatorischen Anforderungen insbesondere aus der Sicht von Datenschutz und Compliance berücksichtigt werden müssen.

  • Datenschutz: Nur weil Daten vorhanden sind, heisst das nicht, dass diese für jeden Zweck verwendet werden dürfen. Insbesondere, wenn personenidentifizierende Informationen (PII) tangiert sind, gelten strenge Auflagen aus dem revidierten DSG sowie unter Umständen auch der DSGVO. Unter diese Regulation fallen auch allfällige automatisierte Einzelfallentscheide, falls KI-Anwendungen in die Prozessautomatisierung eingebunden werden.
  • Compliance: Neben den Datenschutzanforderungen gibt es weitere Regulatorien für KI-Anwendungen, die demnächst verabschiedet werden. Relevant ist hier insbesondere der EU AI Act, der verschiedene Regeln im Umgang mit KI-Anwendungen aufstellt, abhängig vom Risikolevel, welches vom KI-System ausgeht. Inwieweit die Schweiz diesen Regeln folgt, und ob sie eine verschärfte Regulation fordert, ist derzeit noch unklar.
  • Datensicherheit: Beim Aufbau neuer Systeme ist immer auch die Datensicherheit zu prüfen. Die Prüfung erfolgt dabei immer in Hinblick auf die drei Schutzziele Vertraulichkeit (Zugriffsberechtigung), Integrität (Manipulationssicherheit) und Verfügbarkeit (Resilienz).

Schritt 4:

Mit den ersten drei Schritten werden Grundlagen geschaffen, um eine KI-Anwendung nachhaltig in ein Unternehmen einzubetten. Im vierten Schritt wird die KI-Anwendung schliesslich entwickelt und lanciert. Dabei sollten die folgenden Punkte berücksichtigt werden.

  • Erwartungsmanagement: Eine KI-Anwendung ist ein lernendes System, das sich durch «Lernen» kontinuierlich weiterentwickelt, je mehr es genutzt wird. Antrainiert wird es mit Trainingsdaten, die zu Beginn i.d.R. noch nicht ausreichen, um das volle Potential auszuschöpfen. Folglich muss die Erwartungshaltung klar kommuniziert werden, damit die ersten Erfahrungen (Moment of Truth) nicht zur Enttäuschung führen.
  • MVP-Ansatz: Es empfiehlt sich, eine KI-Anwendung als Minimal Viable Product (MVP) zu lancieren und in agilen Iterationen weiter auszubauen. Dadurch werden Fehlentwicklungen reduziert und die Organisation kann sich langsam mit der Anwendung vertraut machen.
  • Quick-Wins: Es empfiehlt sich, mit einfacheren KI-Anwendungen zu starten, um schnell die ersten Erfolge zu feiern und damit Widerstände und Motivationsblockaden zu verhindern. Da jede KI-Anwendung auch einen Business Case realisieren sollte, kann schnell auch eine erste Kosten-Nutzen Überprüfung erfolgen und als Argumentationshilfe für den weiteren Ausbau dienen.

Use Cases für die Versicherungswirtschaft

Nun stellt sich die Frage, wo KI im Wertschöpfungsprozess bei Versicherungen überhaupt zum Einsatz kommen kann. Diese Frage ist generisch einfach zu beantworten: überall.

In der nachfolgenden Abbildung 3 sind exemplarisch zu jedem Kernversicherungsprozess einzelne mögliches Use Cases aufgeführt.

Starten wir bei der Bestandsführung, so zeigen sich bereits in diesem ersten Prozessschritt enorme Potenziale. So kann beispielsweise die ganze Korrespondenz, die über diverse Kanäle von E-Mail über Social Media oder Chats eingeht, analysiert, strukturiert und automatisch prozessiert werden. Weitere Potenziale ergeben sich etwa beim Einsatz von GenAI in der Kundenkommunikation (Chat- oder Voicebot) oder auch bei Predictive Analytics im Sinne einer KI unterstützten Kündigungsvorhersage (Churn Management). Schauen wir auf den nächsten Prozessschritt «Vertrieb», zeigen sich auch hier vielfältige Möglichkeiten für eine KI-Unterstützung. Geradezu aufdrängen tut sich der Use Case Angebotspersonalisierung und Next Best Action (NBO), da mit KI-Unterstützung viel mehr Daten über die Kund:innen zeitnah analysiert und verarbeitet werden können. Aber auch die individualisierte Risikoprüfung im Underwriting oder die teilweise sogar komplett autonome Kund:innenberatung, wie sie auch schon in der Finanzbranche zum Einsatz kommt, stellen weitere grosse Potenziale dar. Im Schadenmanagement sehen wir insbesondere hohe Automatisierungspotentiale durch KI. Einerseits bei der Fallbearbeitung durch die Datenerkennung und -verarbeitung, andererseits durch eine automatisierte Dateninterpretation und damit effizienten und autonomen Falltriage. Zudem kann Predictive Analytics auch im Schadenmanagement eingesetzt werden, insbesondere, wenn es um die Erkennung von Anomalien und somit um die Identifikation von möglichen Fällen von Versicherungsmissbrauch geht.

Das Finanzmanagement profitiert ebenfalls von möglichen KI-Anwendungsfällen. Ein wichtiges Einsatzgebiet betrifft vor allem die Risikoanalyse von Schadenfällen, die mithilfe von KI eine präzisere Einschätzung der Schadenhöhen und der damit erforderlichen Schadenreservierungen ermöglicht. Weitere Einsatzmöglichkeiten von KI im Finanzwesen sehen wir bei der Unterstützung im Rechnungslauf sowie im Beschaffungsprozess (Purchase-to-Pay), in denen Teilprozesse komplett autonom abgewickelt werden können. Zu guter Letzt kann KI auch im Bereich Legal & Compliance eingesetzt werden. Insbesondere die neue Datenschutzgesetzgebung stellt hohe Anforderung an die Verarbeitung von Personenidentifizierenden Informationen (PII). Mithilfe von KI können solche Daten automatisch erkannt und anonymisiert werden. Weiter kann GenAI eingesetzt werden, um die Vielfalt von Weisungen und Richtlinien abzufragen bzw. zu überprüfen, oder es wird wiederum Predictive Analytics eingesetzt, um auf Portfolioebene Risikoanalysen und -bewertungen zu erstellen.

Conclusion

KI ist derzeit eines der "hot Topics»" in der Versicherungsbranche und viele Unternehmen wollen KI in ihre Unternehmensprozesse integrieren. Dabei stehen sie aber vor vielfältigen Herausforderungen, die nicht vernachlässigt werden dürfen. Die Vielfalt an möglichen Anwendungsfällen über die gesamte Wertschöpfungskette von Versicherern zeigt grosse Potenziale auf, einerseits in Richtung Automatisierung und Effizienz, andererseits in Richtung Genauigkeit und Individualisierung. Aus diesen Gründen ist es unserer Ansicht nach essenziell, mit KI-Anwendungsfällen nicht einfach dort loszulegen, wo sich gerade eine Gelegenheit bietet, sondern ein strukturiertes und sorgfältiges Vorgehen zu wählen, welche einen nachhaltigen Ausbau der KI-Landschaft ermöglicht.


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Bild Michael Hartmann

Autor Dr. Michael Hartmann

Dr. Michael Hartmann ist Head Consulting und Business Area Lead des Bereichs Insurance bei der adesso Schweiz AG.

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