15. Oktober 2024 von Milena Fluck und Daniel van der Wal
Kreativität – Das kreative Potenzial - Teil 2
Während wir im ersten Teil des Blog-Beitrags gezeigt haben, was Kreativität ausmacht, welche Stufen sie durchläuft und wie sie sich entwickelt hat, werfen wir in diesem Teil einen Blick auf die Rolle des Akteurs und seines kreativen Potenzials im kreativen Prozess.
Jeder Mensch hat ein kreatives Potential. Es gibt keine kreativen oder unkreativen Menschen, aber verschiedene kreative Fähigkeiten können unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Kreative Fähigkeiten sind unter anderem
- Fragen stellen: tiefgründiges und kritisches Denken und Hinterfragen
- Ursachen erforschen: Hypothesen aufstellen und analytisch denken
- Konsequenzen zu antizipieren und sich verschiedene Ausgänge von Szenarien vorzustellen
- Die Fähigkeit, Potenziale zu erkennen und Produkte zu verbessern
- Die visuelle Vorstellungskraft und die Fähigkeit, phantasievolle Geschichten zu erzählen
Ein bekannter Test zur Erfassung der Ausprägung dieser Fähigkeiten ist der von Ellis Paul Torrance entwickelte Torrance-Test des kreativen Denkens. Der Torrance-Test erfasst Ausprägungen auf mehr als zehn Skalen. Dazu gehören Humor, die Synthese von Linien und Kreisen und die Fähigkeit, sich erzählerisch auszudrücken. Mit dem Argument, dass bei der Ausübung kreativer Fähigkeiten mehrere Sinne beteiligt sind, besteht der Test aus verbalen Aufgaben mit verbalen Reizen, verbalen Aufgaben mit nonverbalen Reizen und nonverbalen Aufgaben.
Im ersten Teil des Blog-Beitrags haben wir bereits erfahren, dass der kreative Prozess mehrere Schritte umfasst und daher verschiedene Fähigkeiten erfordert. Der Torrance-Test misst vor allem die Problemlösefähigkeit und das divergente Denken. Beides ist besonders wichtig, um Ideen, Antworten und Lösungen für unsere Aufgabenstellung zu generieren.
Divergentes Denken ist ein Denkprozess, der darauf abzielt, so viele Ideen wie möglich zu generieren, ohne sich auf eine einzige Idee festzulegen. Es ist eine echte Herausforderung, so viele Ideen wie möglich als Antwort auf einen Prompt zu generieren. Dies kann zu einem kreativen, das heißt originellen und nützlichen Produkt führen. Divergentes Denken ist nicht einfach, weshalb wir im Alltag oft Kreativitätsmethoden wie Brainwriting einsetzen, um die Ideengenerierung anzuregen. 1967 entwickelte J.P. Guilford den Alternative Use Test, um unsere Fähigkeit zum divergenten Denken zu messen. Diesen Test könnt ihr auch spontan selbst durchführen. Schnappt euch dazu Papier und Stift und stellt einen Timer auf drei Minuten. Startet nun den Timer und generiert so viele Ideen zur folgenden Frage, wie ihr in der Zeit schafft:
- Was kann man alles mit einem Pappkarton machen?
Anschließend wird auf Grundlage von folgenden vier Kriterien bewertet, wie gut ihr abgeschnitten habt:
- Fluency: Anzahl der genannten Alternativen
- Originality: Wie ungewöhnlich sind eure Ideen?
- Flexibility: Bandbreite der Ideen (Bereiche und Kategorien)
- Elaboration: Detaillierungsgrad und Grad der Ausarbeitung, das heißt, wie konkret war die Idee beschrieben?
ChatGPT-3 war in der Lage, in weniger als zehn Sekunden mehr als zwanzig Anwendungsideen (darunter Umzugskarton, Puppenhaus, kleines Regal) aus vier verschiedenen Bereichen (darunter Bildung und Lernen, Upcycling), unterteilt in verschiedene Unterkategorien, zu liefern. Zu jeder Idee gibt es einen zusätzlichen Tipp oder eine Anleitung. Probiert es gerne selbst mal mit unterschiedlichen Gegenständen, verschiedenen textbasierten generativen KI-Tools (ChatGPT-3, Google Gemini, Jasper.ai) und euren Kolleginnen und Kollegen aus. Ideen für euch: Tischtennisball, Büroklammer oder Flaschendeckel.
Im Zusammenhang mit dem kreativen Potenzial einer Person wurde eine breite Palette von Persönlichkeitsmerkmalen und Eigenschaften vorgeschlagen, die mit divergentem Denken in Verbindung gebracht werden. Dazu gehören die Toleranz gegenüber Mehrdeutigkeit, die Fähigkeit, unmittelbare Belohnung und Befriedigung aufzuschieben, die Anziehungskraft von Komplexität, breit gefächerte Interessen, Ehrgeiz und Offenheit für neue Erfahrungen. Vorsicht: Divergentes Denken wird in der Wissenschaft oft mit Kreativität gleichgesetzt, ist aber nicht Kreativität in ihrer Gesamtheit, sondern einer der am häufigsten verwendeten Indikatoren für kreatives Potenzial. Es hat sich gezeigt, dass divergentes Denken insbesondere ein guter Prädiktor für Kreativität im Alltag ist.
Dabei ist zu beachten, dass der Besitz dieser Eigenschaften allein noch keine kreativen Ergebnisse garantiert. Mindestens ebenso wichtig ist die intrinsische Motivation der Person. Es stellt sich auch die Frage, ob diese Persönlichkeitsmerkmale direkt mit der Kreativität als Fähigkeit zusammenhängen oder eher mit der Motivation, kreativ zu sein.
Das Generieren von Ideen allein bringt uns nicht unbedingt weiter. Die Auswahl und Umsetzung der besten Idee bleibt uns überlassen. Divergentes Denken hilft uns zwar, viele mögliche Ideen zu generieren, aber wir müssen einige geeignete Ideen auswählen, mit denen wir fortfahren und in die wir Ressourcen investieren wollen. Wir können nur wenige Ideen zum Leben erwecken. Die Fähigkeit, die richtige Auswahl zu treffen und umzusetzen, wird als konvergentes Denken bezeichnet. Diese Fähigkeit ist mindestens ebenso wichtig, um ein kreatives Produkt zu schaffen. Wir müssen Ideen bündeln, filtern, rational und logisch analysieren und kritisch hinterfragen.
Intelligenz und Kreativität
The true sign of intelligence is not knowledge but imagination.
Albert Einstein
Ob Taylor Swift, Frida Kahlo oder Ada Lovelace. Wir sind oft fasziniert von Personen, die unglaublich kreative Produkte hervorbringen, entwickeln oder vermarkten. Wir bezeichnen sie oft als Genies, Ausnahmetalente oder intelligente Menschen. Doch was hat Intelligenz mit Kreativität zu tun? Die Wissenschaft betrachtet beide Konzepte aus folgenden Perspektiven:
- Intelligenz als Teilmenge der Kreativität
- Kreativität als Teilmenge der Intelligenz
- Beide als separate Konzepte, die eine gewisse Überschneidungen haben
- Als gleichbedeutend
Viele bekannte Intelligenztheoretiker beziehen die für Kreativität notwendigen Fähigkeiten in ihre Theorien ein.
Robert Sternberg definiert Intelligenz als die Fähigkeit, auf der Grundlage der eigenen Maßstäbe und des soziokulturellen Umfelds erfolgreich zu sein. Er unterteilt Intelligenz in drei wesentliche Aspekte:
- Analytische Intelligenz: die Fähigkeit, Informationen zu bewerten und Probleme zu lösen
- Kreative Intelligenz: die Fähigkeit, neue Ideen zu entwickeln
- Praktische Intelligenz: Anpassungsfähigkeit an neue Umgebungen im täglichen Leben
Eine der bekanntesten Intelligenztheorien, die häufig mit Kreativität in Verbindung gebracht wird, stammt von Raymond Cattell. Ihm zufolge gibt es eine kristalline Intelligenz. Das ist die Fähigkeit, bisher erworbene Fertigkeiten und Faktenwissen sinnvoll zu nutzen. Interessanter ist jedoch die fluide Intelligenz. Sie beschreibt die Fähigkeit, Informationen zu abstrahieren, komplexe Probleme zu lösen und Muster zu erkennen. Genau das, was wir im kreativen Prozess brauchen, um kreative Produkte zu schaffen.
Die Korrelation zwischen gemessenem IQ und gemessener Kreativität (häufig durch den Torrance Creative Thinking Test) ist umstritten. Die Ergebnisse spiegeln sich in der Schwellenhypothese wider. Diese besagt, dass bis zu einem IQ von 120 auch die gemessene Kreativität steigt. Während der IQ-Wert weiter ansteigt, ist ab diesem Punkt keine Zunahme der gemessenen Kreativität mehr zu beobachten. Sowohl die Existenz eines Schwellenwertes als auch die genaue Grenze werden in Studien immer wieder in Frage gestellt.
Fazit
Menschen haben dank ihrer Superfähigkeit Kreativität komplexe Probleme gelöst, ihr Überleben gesichert und ihre Lebensqualität verbessert. Kreativität: eine Fähigkeit, die nur Menschen besitzen? Jetzt, wo wir mehr über den Menschen als Spezies mit kreativem Potenzial wissen, gehen wir im dritten Teil unsers Blog-Beitrags näher auf generative künstliche AgentInnen und ihr kreatives Potenzial ein.