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Gesetzesgetriebene Weiterentwicklung

Die Verantwortlichen für die Weiterentwicklung komplexer IT-Fachverfahren stehen in der öffentlichen Verwaltung häufig unter dem Druck, eine Vielzahl von hoch priorisierten Anforderungen kurzfristig und in hoher Qualität umzusetzen. Wenn zudem Änderungen von relevanten Gesetzen und Verordnungen anstehen, verschärft sich die Situation. Die eingeschränkte Verfügbarkeit von fachlichen Ansprechpartnern führt dabei zwangsläufig zu Engpässen in der Softwareentwicklung. Dadurch werden notwendige Modernisierungsmaßnahmen immer wieder verschoben. Unter diesen Umständen erscheint ein proaktives Vorgehen kaum möglich. Irgendwann heißt es, die Software sei „historisch gewachsen“.

Da sich die Umstände kaum ändern lassen, stellt ihr euch sicherlich die Frage „Wie kann man den spärlich vorhandenen Handlungsspielraum optimal nutzen, um einem „Wildwuchs“ in der Softwarelösung wirksam zu begegnen?“. Ich verrate es euch.

Schlüsselrolle Requirements Engineer

Für eine erfolgreiche Softwareentwicklung benötigt ihr ein kompetentes Projektmanagement und ein qualifiziertes Entwickler- bzw. Testteam. Wenn es um die Umsetzung komplexer fachlicher Anforderungen mit vielen Beteiligten geht, kommt dem Requirements Engineer eine weitere Schlüsselrolle zu.

Ein Requirements Engineer arbeitet an der Kommunikationsschnittstelle zwischen der Fachseite und der Softwareentwicklung. Seine Aufgabe ist es, ein gemeinsames Verständnis der Stakeholder über die Anforderungen an ein IT-System zu erzielen. In dieser Rolle kann er die Fachseite des Auftraggebers maßgeblich entlasten. Er ist von der Erhebung der fachlichen Anforderungen bis zur Begleitung der technischen Umsetzung und des Veränderungsprozesses am gesamten Softwarelebenszyklus beteiligt.

Durch den Einsatz eines systematischen und disziplinierten Requirements Engineerings könnt ihr Fehler in der Anforderungsspezifikation frühzeitig erkennen. Damit reduziert ihr erheblich das Risiko einer Fehlentwicklung, das mit höheren Projektkosten verbunden ist. In Deutschland hat sich IREB (International Requirements Engineering Board) als Methodenstandard für Requirements Engineering etabliert. IREB stellt einem Requirements Engineer Praktiken bereit, die sich unabhängig von den gängigen Vorgehensmodellen der Softwareentwicklung einsetzen lassen.

Das Modernisierungsprojekt

Wie sich der Einsatz von Requirements Engineering nach IREB auf den Projekterfolg auswirkt, möchte ich euch anhand eines Modernisierungsprojektes der e-Vergabe zeigen.

Das Beschaffungsamt des Bundesministeriums des Innern blickt auf umfangreiche Erfahrungen in der Weiterentwicklung von IT-Fachverfahren zurück. Als langjähriger Betreiber der e-Vergabe ist das Beschaffungsamt mit der softwareseitigen Umsetzung komplexer Fachlichkeit aufgrund rechtlicher Anforderungen bestens vertraut. Die Vergabeplattform des Bundes wird von einem breiten Publikum genutzt. Derzeit sind mehr als 750 Vergabestellen und über 25.000 Benutzer aus der freien Wirtschaft dort registriert. Die große Vergaberechtsreform aus dem April 2016 machte umfangreiche Anpassungen an der Plattform notwendig. In jüngster Vergangenheit standen zudem diverse Modernisierungen auf dem Programm.

adesso unterstützt das Beschaffungsamt als IT Dienstleister bei der Pflege und Weiterentwicklung der e-Vergabe und nimmt dabei auch die Aufgaben des Requirements Engineerings wahr. Diese Disziplin hat sich als originärer Bestandteil des gesamten Entwicklungsprozesses in der e-Vergabe etabliert und trägt entscheidend zum Projekterfolg bei. Dazu gehört auch, dass das Requirements Engineering nicht „nebenbei“ erledigt wird, sondern explizit von IREB-zertifizierten Experten besetzt ist.

Im Beispiel der e-Vergabe hat der neue webbasierte Angebotsassistent (AnA-Web) den bisherigen Software-Client abgelöst. Mit dem Angebotsassistenten konnten Unternehmen bereits zuvor an Ausschreibungen der e-Vergabe teilnehmen. Die bisherige Government-to-Business-Anwendung war jedoch in die Jahre gekommen und sollte auf eine neue technologische Basis gestellt werden. AnA-Web sollte in dem Zuge vollständig in das Vergabeportal integriert und die Benutzer schlank durch den gesamten Ausschreibungsprozess geführt werden. Zugleich galt es, die sensiblen Anforderungen an das Vergaberecht, den Datenschutz und die Datensicherheit einzuhalten.

Sequenziell-agiler Vorgehensmix

Ihr fragt euch, was zum Erfolg in diesem Modernisierungsprojekt geführt hat? Ganz einfach: AnA-Web wurde in einer Kombination aus sequenziellem und agilem Vorgehen entwickelt. Die sequenziellen Bestandteile „Analyse und Konzeption“ sowie „Test und Abnahme“ bildeten dabei eine Klammer um die agile Softwareentwicklung. Das gewählte Vorgehen fügte sich in den Rahmen von V-Modell XT ein. Im Vorgehensmodell der Bundesverwaltung lassen sich agile Ansätze gut integrieren, zumal es eine grundsätzlich vergleichbare iterative, inkrementelle Entwicklung vorsieht.

In der Analyse- und Konzeptionsphase von AnA-Web hat der Requirements Engineer sowohl die Stakeholder der Fachseite als auch die der Benutzerwelt einbezogen, um die vielfältigen Wünsche und Bedürfnisse möglichst frühzeitig ermitteln zu können. Zudem wurden Kollegen der späteren Softwareentwicklung eingebunden, um valide Aussagen zur technischen Machbarkeit zu treffen. Der Requirements Engineer war für die Erstellung des Lastenhefts verantwortlich. Darin wurden die festgelegten Ziele, Anwendungsfälle und Anforderungen in Abstimmung mit den Beteiligten umfassend und nachvollziehbar beschrieben. Dafür wurde ein Detaillierungsgrad gewählt, der einen zügigen Prüfungs- und Abstimmungsprozess zuließ.

Vor der eigentlichen Entwicklung wurde ein Usability-Prototyp von AnA-Web erstellt. Die Beteiligten konnten sich somit frühzeitig ein „Bild“ von der Oberfläche machen und mit ersten Szenarien experimentieren. Das gemeinsame Verständnis zu den Anforderungen wurde dadurch vertieft. Zudem wurde konstruktives Feedback bei einem Testlauf von Benutzern aus der Praxis eingeholt.

Die anschließende agile Umsetzung erfolgte in Anlehnung an Scrum. Die Inhalte aus dem Lastenheft wurden in kleinteiligen Spezifikationseinheiten („User Stories“) in das sogenannte „Product Backlog“ eines elektronischen Scrum Boards überführt. In kurzen Entwicklungsiteraktionen („Sprints“) wurden die Funktionen und Masken des Usability-Prototyps inkrementell erweitert. Für die Scrum-Rolle „Product Owner“ fungierte der Requirements Engineer als Bindeglied zwischen den fachlichen Hauptansprechpartnern des Beschaffungsamts und dem Entwicklungsteam. Während der Umsetzung wurden Klärungen in enger Zusammenarbeit mit beiden Seiten kurzfristig herbeigeführt.

Nach jedem Sprint präsentierte das Entwicklerteam den relevanten Stakeholdern die Zwischenergebnisse. Auf diese Weise konnte das Beschaffungsamt den Entwicklungsverlauf von AnA-Web nah verfolgen und bei Bedarf eingreifen. Das selbstorganisiert arbeitende Entwicklerteam wiederum nutzte den Freiraum der Detailspezifikation und brachte sich kreativ in die Entwicklung ein. Das wirkte sich selbstverstärkend auf die Motivation im Team und nicht zuletzt auf die Produktqualität aus.

In der abschließenden Test- und Abnahmephase konnten Testfälle aus den Sprinttests effizient nachgenutzt werden. Letztlich wurden die Anforderungen aus dem fortgeschriebenen Lastenheft verifiziert.

Fazit

Wie ihr seht, hat das konsequent – in einer explizit von IREB-zertifizierten Experten besetzten Rolle – durchgeführte Requirements Engineering den Auftraggeber auf der Fachseite spürbar entlastet. Der systematische Umgang mit Anforderungen hat im gewählten Vorgehen unter enger Einbeziehung der Stakeholder erheblich zum Projekterfolg beigetragen. Die Modernisierungsmaßnahme konnte im Rahmen der komplexen Pflege und Weiterentwicklung der e-Vergabe in hoher Qualität abgeschlossen werden. AnA-Web wurde mit einer zielgerichteten und ansprechenden Benutzerführung in Betrieb genommen.

Auf unserer Website erfahrt ihr übrigens noch mehr zu den Themen Requirements Engineering und e-Vergabe.

Bild Ralf  Gerstenberger

Autor Ralf Gerstenberger

Ralf Gerstenberger ist seit 2012 bei adesso als Berater im Bereich der öffentlichen Verwaltung unterwegs. Als Requirements Engineer verantwortet er die Spezifikation und das Management von Anforderungen in der Softwareentwicklung. Seine Methodenkompetenz hat er in mehreren IREB-Zertifizierungen erweitert und in agiler Softwareentwicklung erprobt.

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