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Stufen der digitalen Transformation

Die digitale Transformation beschäftigt uns schon seit vielen Jahren, und aus der Sicht eines Beratungs- und IT-Dienstleisters ist daran auch nichts auszusetzen, beschert es uns doch stets volle Auftragsbücher. Digitale Transformation ist dabei kein Status, der mit der Durchführung eines Projektes erreicht und abgeschlossen werden kann. Vielmehr entstehen laufend neue Technologien und Trends, welche eine kontinuierliche Anpassung an Kundenbedürfnisse und eine Transformation der prozessualen Abläufe erfordern. Da wir als Beratungs- und IT-Dienstleister täglich mit diesen Veränderungen konfrontiert werden und unseren Kunden helfen, Geschäftsmodelle zu verändern, sind wir stets am Puls der Zeit. Dies möchten wir nutzen, um einmal einen Schritt zurückzugehen, die Entwicklungen der digitalen Transformation zu clustern und die verschiedenen Entwicklungsstufen einzuordnen.

Stufenmodell der Digitalisierung

Abbildung 1: Stufenmodell der Digitalisierung (Quelle: adesso)

Dabei sehen wir vier Stufen, auf die wir näher eingehen und die in der Abbildung 1 schematisch zusammengefasst sind: Die erste Stufe haben wir etwas plakativ mit «digitale Zündung» umschrieben, denn in diesem ersten Schritt werden vorwiegend explorativ die ersten Schritte in Richtung Digitalisierung unternommen. Der Fokus liegt dabei hauptsächlich auf der Optimierung der bestehenden Prozesse, indem Systeme digital vernetzt und Geschäftsprozesse damit medienbruchfreiausgebaut werden. Diese firmeninterne Optimierung wird bis zur Kundenschnittstelle vorangetrieben, sodass typischerweise neue Kundenportale gebaut oder die bestehenden Portale erneuert werden. Das ermöglicht den Kunden, digital mit Unternehmen zu interagieren bzw. dass sie im Sinne von Self-Serviceihre Anliegen selbständig erledigen können. Nachdem mit der Stufe 1 die Grundlagen zur digitalen Transformation gelegt sind, folgt in einem nächsten Schritt konsequenterweise der Ausbau. Dieser ist sehr stark auf die Kundeninteraktion gerichtet. Wir bezeichnen diese Stufe 2 deshalb als «Omnikanal-Management», denn das Ziel auf dieser Stufe ist, den Kunden über eine möglichst breite Vielfalt von Interaktionsmöglichkeiten zu erreichen. Die Schwierigkeit liegt dabei nicht nur darin, weitere Kanäle wie z.B. mobile Endgeräte oder Social Media mit in die Kommunikation aufzunehmen, sondern als Unternehmen die Informationen, welche über die verschiedenen Kontaktpunkte generiert werden, wieder in einem Kundendossier zu sammeln und weiterzuverarbeiten. Die Erneuerung von Kern- und CRM-Systemen ist daher eine wesentliche Ausprägung dieser Digitalisierungsstufe 2. Die Stufe 3 im digitalen Transformationsmodell stellt den Kunden noch wesentlich mehr in den Mittelpunkt: Einerseits sollen seine Anliegen im Handumdrehen erledigt werden, womit die Themen Automation und Prozessunterstützung durch Roboter und künstliche Intelligenz an Relevanz gewinnen. Andererseits sollen Kunden nicht nur ein Produkt kaufen, sondern rund um das Produkt herum sowohl eine umfassende Beratung und Betreuung erfahren, als auch die Möglichkeit erhalten, naheliegende, ergänzende Dienstleistungen zu beziehen. Das Ziel – und so haben wir diese Entwicklungsstufe der Digitalisierung auch genannt – ist somit das vollkommene 360°Produkterlebnis. Was wir nun in der letzten Digitalisierungsstufe 4 sehen, ist eine Entwicklung, bei der das einzelne Produkt nicht mehr im Vordergrund steht. Vielmehr geht es darum, verschiedene Lösungsangebote zu einer übergeordneten, holistischen Themenwelt zusammenzubringen, was meist über eine gemeinsame, digitale Plattform geschieht, die wir als Ökosystem bezeichnen. Kunden halten sich in diesen Ökosystemen auf, weil sie sich für die Themenwelt interessieren und über diese Plattform schnell, einfach und unkompliziert Zugang zu allen Bereichen erhalten, die in einem Kontext zur Themenwelt stehen. Die Themenwelt zeichnet sich überdies dadurch aus, dass sie das Umfeld eines Einzelnen im Alltag betrifft und für das Individuum erlebbar ist.

Stand der Versicherungswirtschaft

Bezugnehmend auf das vorgestellte Stufenmodell der Digitalisierung stellt sich selbstredend die Frage, auf welcher Stufe die Versicherungswirtschaft aktuell steht und welche Schritte als Nächstes in Planung sind. Nun, diese Fragen wollen wir in diesem Kapitel etwas genauer beleuchten, denn das Buzzword Ökosystem wird auch in der Versicherungswirtschaft schon weit herumgereicht. So wie sonst häufig auch, macht es in dieser Betrachtung Sinn, die Sparten Leben-, Sach- und Krankenversicherung differenziert zu betrachten, da aufgrund der Produktkomplexität und der Transaktionshäufigkeit anzunehmen ist, dass unterschiedliche Reifegrade vorliegen.

Lebensversicherung

Die Lebensversicherung ist typischerweise diejenige, in der die Digitalisierung am wenigsten weit vorangeschritten ist. Begründet wird dies damit, dass die Produktwelt in der Regel sehr komplex und beratungsintensiv und für die Digitalisierung damit weniger geeignet ist. Aus unserer Sicht zieht dieses Argument aber nicht, da die Digitalisierungsbestrebungen von Lebensversicherern insbesondere in anderen Märkten deutlich weiter sind. Den Digitalisierungsfortschritt sehen wir mehrheitlich auf der Stufe 1, mit ersten Tendenzen in die Stufe 2. Hürden, die einem weiteren Ausbau aktuell im Wege stehen, sind insbesondere die alten Bestandssysteme, denn im Gegensatz zu den Sach- und Krankenversicherern steht in der Sparte Lebensversicherung die grosse Erneuerungswelle erst noch an. Zudem sehen wir aber auch regulatorische Hürden, denn für offene Schnittstellen gibt es derzeit noch keine Standards und im Markt sind keine oder höchstens zögerliche Bestrebungen in diese Richtung erkennbar. Denken wir an eine mögliche Themenwelt Vorsorge, so eröffnen sich dort noch weitere Hürden, denn ein Vorsorgeüberblick über alle drei Säulen unseres Vorsorgesystems ist aufgrund der regulatorischen Trennung von AHV, Pensionskasse und 3. Säule mit den damit einhergehenden Datensilos äusserst schwierig. Solange sich der Markt also nicht in Richtung einheitlicher Standards öffnet, wird der Aufbau eines Ökosystems und damit die Stufe 4 im digitalen Transformationsmodell noch lange nicht erreicht werden.

Sachversicherung

Im Bereich der Sachversicherungen wird in der Presse schonviel häufiger davon berichtet, dass Ökosysteme in der Entstehung sind. Die Frage soll allerdings erlaubt sein, ob die genannten Ökosysteme auch tatsächlich solche darstellen. Mit Blick auf die Literatur werden Ökosystemen gewisse Eigenschaftenzugeordnet. Darunter fallen etwa:

  • Mehrzahl von Unternehmen: Ein Ökosystem besteht aus mehreren rechtlich unabhängigen Unternehmen, die sich im Rahmen des Ökosystems vertraglich verbinden.
  • Thematische Nähe: Die in einem Ökosystem teilnehmenden Unternehmen bieten ihre Lösungen alle zu einemübergeordneten, kundenspezifischen Thema an und verfolgen ein gemeinsames Werteversprechen.
  • Orchestrator: In jedem Ökosystem gibt es jeweils einen Orchestrator, der die Regeln der Kollaboration festlegt.
  • Plattform: Die Publikation der Angebote erfolgt in der Regel über eine öffentlich und zentral zugängliche Plattform.

Wenn sich nun also Versicherer an weiteren Firmen beteiligen und deren Services in die eigene Angebotspalette aufnehmen, könnte man das zwar als Ökosystem im weiteren Sinne verstehen, denn es gibt eine thematische Nähe (versicherungsnahe Leistungen), einen Orchestrator (Versicherer) und eine Plattform (Kundenportal), aber die Vielfalt des Angebotsmit mehreren unabhängigen Teilnehmern ist nicht gegeben, ebenso wenig der freie Zugang zu einzelnen Leistungen, weil diese oft nur in Zusammenhang mit einer abgeschlossenen Versicherung bezogen werden können. Aus unserer Sicht handelt es sich dabei viel mehr um einen Ausbau der Stufe 3 im Stufenmodell der Digitalisierung, denn im Zentrum steht das Versicherungsprodukt und um das Produkt Versicherung werden weitere Services angeboten, wie z.B. Bausteine im Bereich Prävention, Sicherheit, Nachhaltigkeit, etc. (vgl. Abbildung 2, linke Seite). Vor diesem Hintergrund fällt unsere Beurteilung so aus, dass sich viele Sachversicherer auf Stufe 3 befinden, aber hinsichtlich Integration ihrer Angebote in andere Plattformen noch nicht richtig in Ökosystemen verankert sind.

Von der Produkt- zur Ökosystem-Welt am Beispiel Motorfahrzeugversicherung

Abbildung 2: Von der Produkt- zur Ökosystem-Welt am Beispiel Motorfahrzeugversicherung (Quelle: adesso)

Krankenversicherung

Am weitesten in ihren Digitalisierungsbestrebungen sind unserer Ansicht nach die Krankenversicherer, die tatsächlich schonvereinzelt Schritte auf Stufe 4 des digitalen Stufenmodells unternehmen. Die Natur des Geschäfts bringt einerseits die höchste Kundeninteraktion mit sich, andererseits sind in der Abwicklung sowieso schon häufig mehrere Player involviert, sodass die Orchestrierung der Aktivitäten und Teilnehmenden über eine gemeinsame Plattform eine logische Konsequenz ist. Gleich mehrere Ökosystemanbieter versuchen sich aktuell in Stellung zu bringen. So buhlen etwa Anbieter wie Well mit den Gründungsmitgliedern CSS, Visana, Apotheke zur Rose, medi24 und Allianz Care, ebenso wie Post Digital Health mit der Plattform Cuore oder auch Compassana mit den Gründern Medbase, Hirslanden, Groupe Mutuel, Helsana und Swica um Kunden und Partner. Gemeinsam ist all diesen Plattformen, dass es sich tatsächlich um offene Systeme handelt, die sowohl für Leistungserbringer wie Ärzte, Apotheken und Spitäler als auch für Versicherer und weitere Anbieter im Gesundheitssektor zugänglich sind. Fraglich ist allerdings, ob diese verschiedenen Plattformen auch miteinander kompatibel sind. Denn grundsätzlich wollen zwar alle Partner möglichst viele Kundenerreichen, wenn die Teilnahme an einem Ökosystem jedoch mit hohen Eintrittsbarrieren, z.B. wegen der technischen Anbindung, verbunden ist, werden sich viele der Partner nur für eine Plattform entscheiden und damit automatisch einen Teilihrer potenziellen Kundschaft ausschliessen.

Chancen und Gefahren für Versicherer

Damit sind wir auch schon mitten in der Diskussion von Chancen und Gefahren für die Teilnahme von Versicherern an Ökosystemen. Da die Mehrheit der Versicherer auf die eine oderandere Art die Teilnahme an einem Ökosystem anstrebt, stellt sich die Frage, welchen Nutzen sich die Versicherer dadurch versprechen. Dieser kann natürlich sehr vielfältig und individuell ausgeprägt sein, wir sehen aber drei wesentliche Punkte, die für alle Versicherer Gültigkeit haben (vgl. Abbildung 3):

Grafik zu Chancen und Gefahren bei der Anbindung an ein Ökosystem

Abbildung 3: Chancen und Gefahren bei der Anbindung an ein Ökosystem (Quelle: adesso)

  • Der wichtigste Faktor ist ganz offensichtlich der Zugang zu den Kunden am Point of Sale, d.h. wenn das Ökosystem künftig das digitale Eingangstor für Kunden mit einem Anliegen im Gesundheitsbereich ist, dann muss ein Versicherer über diesen Kanal auch zwingend erreichbar sein, ggf. auch über mehrere Ökosysteme. Insofern können Ökosysteme als weiterer Kanal für die Generierung zusätzlichen Wachstums gesehen werden.
  • Ein weiterer wesentlicher Faktor ist die Optimierung des Kundenerlebnisses (Customer Experience CX). Wer sich heutzutage differenzieren möchte und den Preis nicht in den Vordergrund stellt, der tut dies über seine Serviceleistungen und eine optimale Abwicklung. Für eine konsequente digitale Customer Journey von der Beratung über die Abwicklung und Nachsorge ist das Ökosystemmit seiner Vernetzung zu anderen Gesundheitspartnern elementar und Versicherer, die dies gut können, werden einen Wettbewerbsvorteil erlangen.
  • Als letzte der drei wesentlichsten Chancen sehen wir das Thema Daten. Jeder Teilnehmer, der sich in einem Ökosystem bewegt, hinterlässt einen digitalen Fussabdruck. Kann dieser ausgewertet werden, so können dadurch neue Erkenntnisse zu Kundenverhalten und Bedürfnissen gewonnen werden, was wiederum eine präzisere Ausrichtung der Produkt- und Serviceleistungen ermöglicht.

Die neue digitale Welt bringt aber nicht nur Chancen, sondern auch Gefahren. Auf die drei wesentlichen, die wir im Kontext Ökosysteme sehen, wollen wir hier ebenfalls eingehen:

  • Zunächst einmal haben wir beschrieben, dass Ökosysteme offen sind für alle Teilnehmer. Dieses bedeutet aber auch, dass in einem Ökosystem – anders als in der 360°Produktwelt des Versicherers – auch viele Wettbewerbervertreten sind. Der Zugang zum Point of Sale (POS) ist somit in keinster Weise exklusiv und wer in der digitalen Welt nicht mithalten kann, verliert die Gunst der Kunden.
  • Damit eng verbunden ist das Thema Differenzierung. Mit der Standardisierung der angebotenen Services in einem Ökosystem – die angebotenen Leistungen werden typischerweise in Kategorien geclustert – kann ein Versicherer seine spezifischen Differenzierungsmerkmale unter Umständen gar nicht mehr ausspielen. Wenn die Leistung damit zur Commodity wird, bleibt zur Differenzierung einzig der Preis, was eine gefährliche Abwärtsspirale auslösen kann.
  • Als letzte grosse Gefahr sehen wir das Thema Kundensteuerung, denn in einem Ökosystem bewegen sich Kunden frei und treffen ihre eigenen Entscheidungen. Die Einflussnahme durch den Versicherer ist geringer als in anderen Kanälen und ist überdies auch abhängig von den Prozessen, die das Ökosystem anbietet.



«Zusammenfassend können wir festhalten, dass unabhängig von der Sparte alle Versicherer stark in die Digitalisierung investieren und bestrebt sind, den Eintritt in ein Ökosystem und damit die derzeit oberste Stufe 4 des Stufenmodells der Digitalisierung zu erreichen. Bei vielen Bestrebungen sehen wir allerdings noch grosse technische Hürden, sowohl bei den Systemlandschaften per se, als auch in den Schnittstellen für die Integration und den Datenaustausch mit anderen Plattformen. Ob sich die Vorteile, die sich aus der Teilnahme an einem Ökosystem ergeben, tatsächlich so realisieren lassen oder ob gar die Gefahren und Risiken überwiegen, muss sich zudem erst noch zeigen.»

Dr. Michael Hartmann
Bild Michael Hartmann

Autor Dr. Michael Hartmann

Dr. Michael Hartmann ist Head Consulting und Business Area Lead des Bereichs Insurance bei der adesso Schweiz AG.

Kategorie:

Branchen

Schlagwörter:

Versicherungen

Kundenbindung

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