27. August 2020 von Alexander Ferber
Agil statt altbacken – Wie Versicherer die agile Transformation vorantreiben
Mit Agilität auf Innovationskurs kommen?
Nach vielen und unbeschwerten Jahren sehen sich klassische Versicherer mit ihrem seit Jahrzehnten bewährten Geschäftsmodell auf einmal einem hohen Innovationsdruck ausgesetzt. Zwar sind in den vergangenen Jahren größere Budgetanteile einiger Versicherer in die Digitalisierung der analogen Welt geflossen. Doch reichen technische Investitionen in Omni-Channel-Plattformen oder Apps nicht mehr aus, um sich in einem zunehmend dynamischeren Versicherungsumfeld langfristig behaupten zu können. Vielmehr müssen Versicherer auch ihre Organisation und Steuerungsmechanismen anpassen, um schneller und flexibler auf den vielfältigen Versicherungsmarkt reagieren zu können. Denn als neue Marktteilnehmer besetzen immer mehr spannende Insurtechs mit neuen Versicherungsangeboten die sich bietenden Lücken und erhöhen mit disruptiven Geschäftsmodellen den Wettbewerbs- und Investitionsdruck auf die Versicherer. So wird der Ruf nach agiler Transformation und nach der Einführung agiler Methoden auch bei traditionellen Versicherern immer lauter. Bietet Agilität Versicherern also die Chance, wieder auf Innovationskurs zu kommen?
„Agile Transformation“ – was steckt dahinter?
Das Kernziel der agilen Transformation ist, sich von streng hierarchischen Organisationstrukturen zu lösen, um eine stärkere Vernetzung zu ermöglichen und durch interdisziplinäre Zusammenarbeit die Potenziale und Stärken der Mitarbeitenden besser auszuschöpfen. Durch Einführung gezielter, iterativer Entwicklungs- und Change-Prozesse soll ein nachhaltiger, technologischer und kultureller Wandel ermöglicht werden.
„Agile Transition Team“ als Schlüssel für einen erfolgreichen und nachhaltigen Wandel
Der aktuelle Trend zur Agilität setzt Versicherer immer mehr unter Zugzwang. Zügig wird Agilität in der Unternehmensstrategie verankert und nach innen und außen kommuniziert: „Wir sind agil!“ Nun stehen betroffene Abteilungen unter Druck und es wird nach erfolgreichen Vorbildern gesucht, deren Konzept eins zu eins übernommen werden kann. Häufig stellt man fest, dass der Weg zu einer agilen Organisation stark von den individuellen organisatorischen und kulturellen Gegebenheiten geprägt ist und erfolgreiche Konzepte anderer Unternehmen nur bedingt als Kopiervorlage taugen. Auch die Einführung agiler Methoden wie Scrum oder Kanban kann nur als erster Schritt zu mehr Agilität gesehen werden. Viel wichtiger ist es, eine gemeinsame Vision und ein geteiltes Verständnis davon zu entwickeln, was der Sinn agiler Organisationsprinzipien ist und was damit erreicht werden soll. Vor allem Vertrauen und die Bereitschaft der Teams, den Veränderungsprozess gemeinsam anzugehen und aktiv zu gestalten, sind für den Erfolg entscheidend.
Da sich Vertrauen und ein Kulturwandel nicht von oben verordnen lassen, wird häufig die Gründung eines agilen Transition Teams empfohlen, welches den Rahmen gestaltet, das agile Mindset im täglichen Miteinander vorlebt und die richtigen Impulse setzt. Das Transition Team sollte aus einem Querschnitt der Belegschaft zusammengestellt und intensiv geschult sein sowie im weiteren Verlauf durch erfahrene Agile Coaches professionell begleitet werden. Es dient als Vorbild und als wichtige Stütze für die agilen Teams.
Tatsächlich hat sich im Rahmen meines Projekteinsatzes gezeigt, wie hilfreich ein Transition Team sein kann, um aus der stark hierarchisch geprägten Projektkultur herauszubrechen und die Projektbeteiligten, die bisher überwiegend das Arbeiten mit wasserfallorientierten Methoden gewohnt waren, an agile Prinzipien heranzuführen. Immer dann, wenn sich das Team bei der Entscheidungsfindung schwertat, hat uns ein Agile Coach als unabhängige Instanz beraten und Methoden zur gemeinsamen Entscheidungsfindung vermittelt.
Über das Konzept eines „Digital Enterprise” oder einer „Smart Factory” schaffen Versicherungsunternehmen zudem einen Rahmen, der als Hebel für die Umsetzung einer agilen Projektkultur dienen soll, um sich strategisch noch stärker an Markt und Kunde auszurichten. In speziell auf agiles Arbeiten ausgelegten und ausgestatteten Räumlichkeiten werden selbstorganisierende Projektteams in agiler Methodik fortlaufend weitergebildet. Nach einer Reihe von Basisschulungen und der Erarbeitung einer Produktvision starten die Teams mit der Umsetzung konkreter Projektvorhaben, für die sie eine End-To-End-Verantwortung übernehmen. Unterstützt werden sie durch ein zentrales Team, das nicht nur rund um organisatorische Fragestellungen berät, sondern auch flankierende Maßnahmen in ganz konkreten Projektsituation anbietet.
Agiler Kulturwandel als größte und entscheidende Hürde
Das Transition Team nimmt eine tragende Rolle bei der Einführung der Agilität ein, indem es die Einführung agiler Methoden begleitet und für die konsequente Einhaltung sorgt. Langfristig wird sich das agile Arbeiten allerdings nur dann durchsetzen können, wenn agile Prinzipien und Wertvorstellungen zu einem integralen Bestandteil der Unternehmenskultur werden – wenn die Mitarbeitenden sie als ihr „Mindset“ verinnerlichen. Um das agile Mindset zu fördern, lebt das Team die agilen Werte Respekt, Mut, Fokus, Offenheit und Commitment konsequent vor. Das Transition Team agiert hierbei als Vorbild und befördert die Verankerung agiler Grundsätze wie beispielsweise die iterative Entwicklung, Kundenorientierung oder das Pull-Prinzip, bei dem sich Teammitglieder Aufgaben selbstständig aus dem sortierten Product Backlog nehmen.
Auch in meinen Teams gestaltete sich der Weg zu einem agilen Mindset zunächst schwierig. Auftretende Zweifel am Sinn des Unterfangens waren unüberhörbar. Die Teams bestanden aus neuen, „unbelasteten“ Mitarbeitenden sowie aus Mitarbeitenden, die bereits seit vielen Jahren im Unternehmen tätig sind und von einer klassisch, hierarchischen Projektkultur geprägt waren. Tatsächlich habe auch ich zuvor eine Projektkultur kennengelernt, in der Aufgaben und Lösungen top-down vorgegeben wurden und Hinterfragen oftmals unerwünscht war, was letztlich die Selbstverantwortung und Motivation einzelner Projektbeteiligter untergrub. Die agile Transformation begann demnach immer in einer interessanten Teamkonstellation.
Ein einprägsames Erlebnis hatte ich in einem der ersten Reviews. Das Team befand sich im Anfangsstadium der agilen Transformation und ein junger Mitarbeiter war Product Owner geworden. Als Product Owner wollte er seinen neuen Aufgaben gewissenhaft nachkommen. Doch die kulturelle Vorprägung erwies sich im Review als Hindernis: Wie sollte er dem Abteilungsleiter - der zugleich Projektsponsor war - erklären, dass er sein Feedback nicht umsetzen würde, da es nicht den Erwartungen der Zielgruppe entsprach? Immerhin stand der Abteilungsleiter mehrere Hierarchieebenen über ihm. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Management noch nicht klar genug kommuniziert, dass das Team es selbst in der Hand hat, das zu tun, was sinnvoll und zielführend erschien. Erst nachdem das Top-Management es noch einmal klar hervorhob und vorlebte, gewannen Team und Product Owner deutlich an Sicherheit.
Ein weiteres Beispiel lieferten die Entwicklerinnen und Entwickler: Sie taten sich anfangs schwer damit, sich aktiv in die Konzeption einzubringen. Waren sie es bisher gewohnt, fertige Konzepte entgegenzunehmen und unreflektiert umzusetzen, so konnten und sollten sie sich nun aktiv beteiligen und ihre ganz individuellen Erfahrungen in die Produktvision und Features einbringen. Plötzlich sprach nicht mehr nur die Führungskraft, sondern jeder wollte frei denken und sich kreativ beteiligen. Das führte langfristig nicht nur dazu, dass sich alle Teammitglieder mit dem Endprodukt identifizieren konnten, sondern auch dazu, dass jeder Einzelne die Verantwortung für das Gesamtergebnis übernahm. Früher oft gehörte Schuldzuweisungen wie – „ich habe nur das umgesetzt, was der Fachbereich mir zur Umsetzung vorgelegt hat“ – gehörten damit der Vergangenheit an.
Interessante Erfahrungen habe ich zudem bei der iterativen Entwicklung unserer Produktfeatures gemacht: Die Fachexpertinnen und -experten - nun auch fester Bestandteil des agilen Teams - waren es bisher gewohnt, vollumfängliche Fachkonzepte zu spezifizieren. Der Scope eines solchen Fachkonzepts konnte bisweilen einen Release-Zeitraum von sechs Monaten und mehr einnehmen. So durfte eine Anwendung erst dann ausgerollt werden, wenn der gesamte Scope umgesetzt wurde. Dass solche Konzepte oftmals am Bedarf des Anwenders vorbei entwickelt wurden und durch den relativ langen Konzeptions-, Entwicklungs- und Testzeitraum wertvolle Zeit auf dem Weg zur Markteinführung (Time-to-Market) verloren ging, zeigte sich in den vergangenen Jahren immer deutlicher. Das mussten insbesondere Fachexpertinnen und -experten lernen: Des Öfteren musste das Team Überzeugungsarbeit leisten, als es darum ging, komplexere Vorhaben in kleinere Iterationen herunterzubrechen und einen zunächst reduzierten Funktionsumfang für den ersten GoLive zu definieren. Die anfänglichen Befürchtungen der Fachexpertinnen und -experten, durch „halbfertige“ Lösungen den Unmut der User auf sich zu ziehen, wurden schnell zerstreut. Denn es kam nicht darauf an, eine vermeintlich 100-prozentige Lösung auf den Markt zu bringen, sondern die Anwendung schrittweise nach dem Prinzip „Inspect & Adapt“ weiterzuentwickeln – und zwar in kurzen Entwicklungszyklen und unter ständiger Berücksichtigung des Anwender-Feedbacks.
Ein Schritt in die richtige Richtung…
Kann Agilität klassische Versicherer also auf Innovationskurs bringen? Ja, davon bin ich überzeugt. Dass der Weg dahin allerdings nicht einfach ist, zeigen meine Erfahrungen, die im Wesentlichen die in der Literatur beschriebenen Fallstricke der agilen Transformation bestätigen. Nicht zuletzt hängt der Erfolg eines innovativen Versicherungsunternehmens natürlich auch von den infrastrukturellen Rahmenbedingungen, zeitgemäßen Produkten, neuen Geschäftsmodellen und von einer effektiven Omni-Channel-Strategie ab. Agile Transformation kann in all diesen Bereichen als Katalysator dienen.
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