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„Eine Projektmanagerin oder ein Projektmanager muss kein fachliches Wissen haben, um ein Projekt erfolgreich zu managen!“

Dieses Zitat stammt von einem Dozenten aus meinem Projektmanagementkurs. Schließlich habe man – so der Dozent – ein Team von Fachleuten, das die entsprechende Expertise in das Projekt einbringe. Dementsprechend sei die Aufgabe des Projektmanagers (PM) rein organisatorischer Natur und habe viel mehr mit gesundem Menschenverstand, Organisationstalent und Zeitgefühl zu tun.

Damals, in diesem Kurs, habe ich diese Aussage einfach als gegeben hingenommen. Heute, nach acht Jahren Erfahrung im Projektmanagement mit einer Vielzahl unterschiedlicher Projekte, kann ich sagen: Ich stimme dieser Aussage nicht zu – gar nicht. Sicherlich kann einer oder ein nicht fachlicher PM ein Projekt rein organisatorisch leiten. Dennoch habe ich stets die Erfahrung gemacht, dass Kundinnen und Kunden, aber auch Teammitglieder, von der beratenden Funktion einer Wissensträgerin oder eines Wissensträgers in dieser Position profitieren. Weitestgehend wird die Fachlichkeit des PM nicht nur gewünscht, sondern gefordert.

Warum also klaffen die Aussagen der Projektmanagement-Expertinnen und -Experten und meine eigenen Erfahrungen so weit auseinander? Ich vermute, weil ich im Bereich Life Sciences und Health tätig bin und hier eine Qualifikation in diesem Bereich die Grundlage jeder Beratungs- und Projektmanagementkarriere ist. Zumindest nach meiner Erfahrung. Warum das so ist, werde ich im weiteren Verlauf dieses Blog-Beitrags zeigen.

Die Vielfalt der Life Sciences

Fokussiert man sich auf den Life-Sciences-Bereich, wird schnell klar, warum die Fachlichkeit einer oder eines PM nicht nur einen positiven Effekt auf den Projekterfolg hat, sondern dafür auch kritisch sein kann. Doch was versteht man unter Life Sciences?

Unter dem Begriff Life Sciences wird eine Vielzahl wissenschaftlicher Disziplinen zusammengefasst, die sich mit Strukturen und Prozessen von Lebewesen beschäftigen. Dazu gehören beispielsweise Biologie, Molekularbiologie, Medizin, Biomedizin, Medizintechnik, Biotechnologie, Biochemie, Pharmazie, Biophysik, Bioinformatik, Humanbiologie, Ernährungswissenschaften, Lebensmittelforschung, Veterinärmedizin.

Diese Aufzählung der verschiedenen Fachgebiete zeigt eindrucksvoll, wie vielfältig das Projektumfeld im Bereich der Lebenswissenschaften sein kann. Da diese Projekte direkten und indirekten Einfluss auf Leib und Leben von Tieren, Pflanzen und Menschen haben, gelten verschiedenste Normen, Regelwerke, Gesetze, Verordnungen und Standards, die die Projekte und damit auch das Projektmanagement maßgeblich und in hohem Maße beeinflussen. Ziel dieser Vorschriften ist es, Gefahren und Risiken für Lebewesen, allen voran natürlich den Menschen, zu minimieren oder im besten Fall zu vermeiden.

Es ist die Aufgabe des PM, die Kompatibilität des Projektumfangs und der Projektziele mit den Vorgaben der verschiedenen Regelwerke herzustellen und zu gewährleisten. Dazu gehört auch das Management aller anfallenden Dokumentations-, Validierungs- und Qualitätssicherungsaufwände, die in diesen Vorschriften zentral beschrieben sind.

Hohe Regulation in den Life Sciences

Nachfolgend gebe ich einen Überblick über die verschiedenen Normen, Regelwerke, Gesetze, Verordnungen und Standards und deren Einfluss auf das Projektmanagement. Dabei ist zu beachten, dass es sich sicherlich nicht um eine vollständige Sammlung handelt, sondern um einen Überblick über die für das Projektmanagement in den Life Sciences relevanten Bestimmungen.

Gute Arbeitspraxis

Arbeitet man im Life-Sciences-Umfeld, stolpert man früher oder später über die Good-x-Practice-(GxP)-Richtlinien. GxP umfasst dabei neben den Vorgaben für eine „gute Arbeitspraxis“ Richtlinien unter anderem für Labor (GLP), klinische Studien (GCP), klinisches Labor (GCLP), Pharmakovigilanz (GVP), Manufaktur (GMP), automatisierte Manufaktur durch Einsatz von IT-Systemen (GAMP), Landwirtschaft (GAP) und Distribution (GDP). Etabliert wurden sie, um die Sicherheit, Wirksamkeit und Verwendbarkeit von Medizinprodukten, Arzneimitteln, Lebensmitteln und anderen biowissenschaftlichen Produkten sicherzustellen. Hier müssen nicht nur Mitarbeitende und Räumlichkeiten regelmäßig kontrolliert werden, sondern auch Verfahren und Prozesse (einschließlich der IT-Systeme), um die Produktqualität gewährleisten zu können.

Verordnung für Medizinprodukte und In-vitro-Diagnostika

Eine Vereinigung gleich mehrerer äußerst relevanter Normen bilden die europäischen Verordnungen für Medizinprodukte (MDR) und In-vitro-Diagnostika (IVDR). Diese Verordnungen zeigen die Anforderungen, die Hersteller von Medizinprodukten und In-vitro Diagnostika erfüllen müssen, um die Zulassung zum Markt zu erhalten. Vorgaben und Bestimmungen in den Verordnungen werden zu folgenden Themen gemacht:

  • Qualitätsmanagement
  • Risikomanagement
  • Software-Lifecycle-Prozesse
  • Gebrauchstauglichkeit
  • Dokumentenmanagement
  • Medizinische Informatik
  • IT-Sicherheit bei Medizinprodukten
Biokompatibilität von Medizinprodukten

Ebenfalls eine relevante Norm bildet die biologische Beurteilung von Medizinprodukten nach EN ISO 10993, die insbesondere für Produkte gilt, die nah am Körper getragen werden. Diese Norm ist nicht nur für Hersteller von Medizinprodukten relevant, sondern auch für Prüflaboratorien, die diese Produkte auf Verträglichkeit des eingesetzten Materials mit dem Körper testen und beurteilen. Hierbei werden auch Grenzwerte und deren Einhaltung relevant. PMs müssen hierbei die Einhaltung, Planung und Testung aller 20 Teilstandards im Auge behalten, die hohen wissenschaftlichen Ansprüchen genügen müssen.

Validierung und Computersystemvalidierung

Mit Blick auf die Bedeutsamkeit der Life-Sciences-Projekte und deren Produkte gerät auch der Begriff der Validierung stärker in den Fokus. Während eine Produktverifizierung und -validierung bereits häufig als relevanter Planungspunkt bei PMs und Herstellern aufgenommen ist, ist es die Validierung von Software nicht. Doch insbesondere diese wird mit zunehmendem Digitalisierungsgrad in Laboren, Kliniken, Apotheken, Pharma- und Biotechnologie-Unternehmen immer relevanter. Obwohl keine definierten Anforderungen für eine Computersystemvalidierung (CSV) vorhanden sind, gibt es wichtige Dokumente, die dabei Beachtung finden sollten. Welche das genau sind, erfahrt ihr im Blog-Beitrag von Juan Carlos Peñafiel Suárez und Dr. Vanessa Stahl zum Thema „Warum eine Computersystemvalidierung wichtig ist und welche Vorteile sie mit sich bringt“.

Schutz von Patientendaten

Eine der häufigsten Fragen ist die nach der Erhebung von Gesundheitsdaten der Patientinnen und Patienten. Diese sollte zu Projektstart ausreichend beantwortet sein, da der Schutz von personenbezogenen Daten eine hohe Relevanz in Deutschland hat. Gleich mehrere regulierende Bestimmungen sind hierfür vorhanden:

  • Die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), die generell den Datenschutz regelt.
  • Das Patientendaten-Schutz-Gesetz (PDSG), das erst 2020 verabschiedet wurde, um die Sicherheit von Patientendaten mit Blick auf die Einführung der elektronischen Patientenakte zu gewährleisten. Wen dieses Themenfeld interessiert, der sollte einen Blick in den Blog-Beitrag meiner Kollegin Sabine Fischer zur elektronischen Patientenakte werfen.
  • Die Technische Richtlinie TR-03161, die als Leitfaden dienen soll, um bei der Entwicklung von sicheren Lösungen zu unterstützen.

Diese Punkte legen fest, dass die Erhebung, Speicherung, Nutzung und Verarbeitung von Patientendaten nur unter sehr engen Voraussetzungen zulässig ist. Sind Patientendaten Teil des Projektes und des Produktes, führt dies zu relevanten Aufwänden im Projekt, die ein PM entsprechend managen muss. Folgende Aspekte sind zu berücksichtigen:

  • Minimalansatz der Datenerhebung
  • Sicherheit der Daten
  • Speicherung der Daten und Zugriff auf sie
  • Anonymisierungs- und Rückverfolgbarkeitsgrad
  • Erfüllung des Rechts auf Selbstauskunft
  • Verwaltung der Daten hinsichtlich Löschung unter Berücksichtigung von Einhaltung der Nachweisbarkeitspflicht
Heilmittelwerbegesetz

Ist die Vermarktung und der Vertrieb des Produktes Teil des Projektes, so wird man bei Arzneimitteln und Medizinprodukten mit dem Heilmittelwerbegesetz (HWG) konfrontiert. Dieses regelt die Bewerbung der entsprechenden Produkte. Die Prüfung von Werbematerialien obliegt häufig dem PM, daher sollte dieser mit den Vorgaben des HWG vertraut sein. Die Kernaussagen des Gesetzes sind:

  • Das Verbot von irreführender Werbung
  • Verpflichtende Angaben und Informationen in der Werbung
  • Zulässige und unzulässige Werbung
  • Verbot von Teleshopping und Werbung für Fernbehandlungen
  • Beschränkung der Bewerbung von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln auf Fachkreise
  • Verbot der Annahme von Zuwendungen oder Werbegaben der Hersteller (Compliance)

Fazit

Obwohl ich in diesem Blog-Beitrag nur einen Überblick über die verschiedenen Bestimmungen im Bereich der Life Sciences gegeben habe, erscheint die Liste bereits sehr umfangreich. Es stellt sich unweigerlich die Frage, ob eine einzelne Person dies alles leisten kann. Sicherlich ist jeder PM durch seine Erfahrung auf einige der genannten Bereiche spezialisiert. Dennoch sind insbesondere Naturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler in der Lage, sich schnell und tief in komplexe Sachverhalte einzuarbeiten. So kommt einem Life-Sciences-PM seine Spezialisierung und Ausbildung auch bei der Einarbeitung in die komplexen Regelungen und die inhaltliche Themenvielfalt des Life-Sciences-Bereichs zugute.

Die Anforderungen an Life-Sciences-Projekte und deren Teammitglieder sind, wie hier gezeigt, besonders hoch. Blickt man daher auf das Zitat zu Beginn des Beitrages zurück, wird klar, dass ein gutes Projektmanagement im Life-Sciences-Bereich zu weiten Teilen davon abhängt, dass der PM einen fachlichen Hintergrund bietet und sich fortlaufend durch Weiterbildungen und Zertifizierungen weiterqualifiziert.

Meiner Meinung nach kann ein PM nur dann gutes Projektmanagement und eine umfängliche Beratung der Entscheidungsträger gewährleisten und den hohen Ansprüchen und vielfältigen Bestimmungen der Life Sciences gerecht werden.

Bild Stefanie Ehrlich

Autorin Stefanie Ehrlich

Stefanie Ehrlich ist seit mehreren Jahren als Senior Consultant im Bereich Life Science bei adesso tätig. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der Beratung und im Projektmanagement von Life Science- und Healthcare-Projekten. Insbesondere beschäftigt sie sich mit Arzt- und Patientenkommunikation sowie digitalen Lösungen für die Pharma- und Life Science-Branche.

Kategorie:

Branchen

Schlagwörter:

Life Science

Regulatorik

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