adesso Blog

Geoinformationssysteme spielen eine große Rolle in der Energiewirtschaft. Vor allem für Verteilnetzbetreiber, zum Beispiel für die Planung der Netzinfrastruktur, für Netzanschlüsse und zur Erstellung digitaler Zwillinge von Stromniederspannungsnetzen. Ein digitaler Zwilling, kurz gesagt ein Modell als virtuelles Abbild der Wirklichkeit, ermöglicht Energieversorgungsunternehmen, geografische und technische Daten der Netzinfrastruktur zu erfassen, zu dokumentieren, zu analysieren und zu optimieren, um die Effizienz und Ausfallsicherheit des Netzes zu erhöhen und die Netzinfrastruktur noch effektiver auszulasten. Insbesondere die zunehmenden Datenmengen durch immer mehr Messgeräte beziehungsweise Sensoren und die komplexen Veränderungen der Energiewende machen diese Modelle für strategische Entscheidungen und Planungen immer wichtiger.

Geoinformationssysteme (GIS)

Um einen ersten Einblick in das Thema zu bekommen, gehen wir zunächst auf Geoinformationssysteme (GIS) und deren Einsatzmöglichkeiten ein, da Geodaten die Basis für einen digitalen Zwilling sind.

Geodaten bilden die Lage von verortbaren Objekten, wie zum Beispiel Städten, Gebäuden oder Stromnetzen, in Kombination mit zusätzlichen Sachdaten, wie Bevölkerungszahlen, Nutzungsart oder Auslastung, ab. Ein GIS dient dazu, diese Geodaten zu verwalten, zu kombinieren, zu analysieren und etwa als Karten darzustellen. Unterschiedliche Bildinformationen können in einem GIS als Schichten (Layer) übereinandergelegt und kombiniert werden (beispielsweise Layer 1 für Straßen, Layer 2 für Stromnetze). Diese Kombinationen helfen dabei, räumliche Muster und Zusammenhänge zwischen den Layern zu verstehen und diese zum Beispiel als Entscheidungsgrundlage zu verwenden.

Ein oft verwendetes Beispiel sind die verschiedenen Kartensysteme auf einem Smartphone. Diese Apps bieten geografische Daten in Form von Karten und ermöglichen das Anzeigen, Navigieren und Suchen nach bestimmten Orten in Bezug zum aktuellen Aufenthaltsort (etwa die nächste Ladestation). Auch wenn sie nicht den vollen Funktionsumfang eines spezialisierten GIS bieten, sind solche Anwendungen dennoch für viele ein unverzichtbarer Helfer im täglichen Alltag.

Die wichtigsten Funktionen von oft genutzten GIS-Lösungen:

  • 1. Suchleiste für spezifische Orte, die über geografische Koordinaten oder deren Namen lokalisiert werden können
  • 2. Berechnungen und Auswahl von beispielsweise einer Route basierend auf dem aktuellen Standort
  • 3. Einstellung eines Layers (Karte), der als Grundlage dienen soll
  • 4. Visualisierungen, unter anderem einer Route als Linienelement zwischen einem Start- und Endpunkt
  • 5. Ausgabe von Zusatzinformationen, zum Beispiel die visuelle Darstellung von Staugefahr auf einer angegebenen Strecke oder der voraussichtlichen Fahrtdauer und Ankunftszeit

Geoinformationssysteme (GIS) und Netzinformationssysteme (NIS) für Verteilnetzbetreiber

Geoinformationssysteme (GIS) sind bei Netzbetreibern nicht mehr wegzudenken. Netzinformationssysteme (NIS) sind Speziallösungen von GIS für die Ver- und Entsorgungswirtschaft mit Betriebsmittelinformationen (ähnlich wie die analogen Papierpläne). Ein wichtiger Anwendungsfall von GIS bei Verteilnetzbetreibern ist die Dokumentation der Trassen und der Netztopologie – beispielsweise für die effiziente Digitalisierung und Automatisierung der Prozesse für (externe) Leitungs(plan)auskünfte. Speziell der detaillierte räumliche Verlauf der Leitungen und deren Eigenschaften wie Durchmesser, Tiefe (Erdreich) beziehungsweise Höhe (Freileitung), Material, Alter, nächster Netzknoten etc. sind unter anderem wichtig für Netzberechnungen und Baumaßnahmen. Nach einer baulichen Anpassungsmaßnahme ist es beispielsweise notwendig, dass (Geo)daten in GIS-Lösungen effizient und zeitnah aktualisiert werden können. GIS-Lösungen sind notwendig für Netzentwicklungspläne, die Dimensionierung der Infrastruktur und den Netzausbau. Ein immer wichtiger werdendes GIS-Anwendungsgebiet ist das Thema Netzanschlussprüfungen – zum Beispiel für neue Photovoltaikanlagen. Weitere Anwendungsfälle sind Wartung, Instandhaltung und Asset Management.

Digitale Zwillinge für Stromverteilnetzbetreiber

Ein Teil eines digitalen Zwillings basiert auf Geodaten, welche die geografischen Komponenten des Stromverteilnetzes darstellen. Diese werden beispielsweise durch Messdaten und Zeitreihen von Erzeugern und Verbrauchern aus dem Messdatenmanagement (MDM) und von Messgeräten angereichert. Der digitale Zwilling ist nicht ideal geeignet für operative Echtzeitdaten, etwa zur Störfallbehebung (Out of Scope). Der geplante Umfang (Scope) des digitalen Zwillings liegt hauptsächlich auf strategischer und planerischer Ebene. Er ermöglicht den Verteilnetzbetreibern eine effektive und effiziente Verwaltung und Optimierung des Verteilnetzes und erleichtert die Bewältigung der Herausforderungen einer sich verändernden Energiewelt.

Darüber hinaus ist eine kontinuierliche Erweiterung beziehungsweise Modernisierung des Verteilnetzes erforderlich. Für einen bestmöglichen Kapitaleinsatz müssen bereits jetzt potenzielle Standorte und Flächen für neue Netzelemente unter Berücksichtigung geografischer, topografischer und umweltbezogener Faktoren identifiziert werden. Digitale Zwillinge werden zunehmend relevant, um die Integration erneuerbarer Energien strategisch zu planen und effektiv zu verwalten, einschließlich der Bewertung von aktuellen und zukünftigen Netzkapazitäten und der Simulation der dezentralen Energieeinspeisung. In digitalen Zwillingen können mit Schichten (Layer) in Sekunden Daten aus verschiedensten Themengebieten übereinandergelegt und ausgewertet werden. Digitale Zwillinge können bei der Modellierung und Berechnung verschiedener Szenarien und bei der Analyse ihrer Auswirkungen auf das Netz unterstützen. Zudem kann eine umfassende Datenverwaltung durchgeführt werden, indem ein digitaler Zwilling als „Single source of truth“ (SSOT) als zentrale Plattform für die Speicherung, Aktualisierung und Analyse von geografischen und attributiven Daten dient.

Transparenz in der Niederspannung

Im weitesten Sinne kann in einem digitalen Zwilling das Niederspannungsnetz von der Mittelspannung (etwa dem Umspannwerk) bis zum Stromzähler im Haushalt abgebildet werden. In den derzeitigen Netzmodellen – unter anderem in einer Leitwarte für den Netzbetrieb – sind die Niederspannungsnetze nur selten im Detail abgebildet (oft nur Hoch- und Mittelspannungsnetze). Das heißt, der Verteilnetzbetreiber ist bis zu einem gewissen Grad „blind“ im Bereich der Niederspannung. Durch die Energiewende spielen sich aber viele Effekte in der Niederspannung ab. Verbrauchsgeräte mit höheren Leistungen wie Wärmepumpen oder Ladestationen und Energieerzeuger wie Photovoltaikanlagen werden oft am Ende des Netzes angeschlossen, das dafür häufig nicht ausgelegt ist. Zu einem späteren Zeitpunkt können Daten von Smart Metern in den digitalen Zwilling aufgenommen werden und es sind dann idealerweise fast keine „blinde Flecken“ im Stromverteilnetz mehr vorhanden. Bis vollständige Daten von Smart Metern (für viele Netzanschlüsse) vorhanden sind, sind die Simulationen in digitalen Zwillingen sehr wichtig, um das Verhalten des Stromverteilnetzes (für nicht gemessene Bereiche) besser einschätzen zu können.

Ein schrittweises Vorgehen für die Erstellung eines digitalen Zwillings

Für die Entwicklung eines digitalen Zwillings ist ein schrittweiser Ansatz mit einem Minimum Viable Product (MVP) empfohlen. Das bedeutet, es wird mit den vorhandenen Daten ein minimal funktionsfähiges Produkt mit der ersten Version entwickelt. Für dieses Produkt wird Feedback eingeholt für weitere Visualisierungen und Daten. Dann wird ein erweitertes Produkt mit der zweiten Version entwickelt und so weiter. Der Vorteil dieser Methode ist, dass man nahe an der jeweiligen Kunden- und Zielgruppe ist und dass idealerweise nur Funktionen entwickelt werden, die auch wirklich Mehrwerte bringen und die gebraucht werden.

In einem ersten Schritt ist es notwendig, sich für eine Software zu entscheiden. Für eine mögliche technische Umsetzung eines digitalen Zwillings kann sowohl Open Source Software als auch kommerzielle Software genutzt werden. Die Open Source Community ist vor allem hilfreich bei Aktualisierungen der Software und bei Fragen. Durch das offene Format sind Veränderungen im System gut anzuwenden und die Software kann an die individuellen Anforderungen angepasst werden. Idealerweise sind Schnittstellen zu anderen Programmen möglich, etwa zum ERP-System. In den weiteren Schritten ist es notwendig, Geodaten, beispielsweise aus einem GIS, zu importieren, aktuell zu halten und zu visualisieren. Zusätzlich ist es erforderlich, technische Daten wie Messzeitreihen von Erzeugern und Verbrauchenden zu importieren und zu visualisieren. In einem initialen Vereinfachungsschritt können Stadtviertel und Gemeindeteile als ein Netzknoten beziehungsweise als eine Zusammenfassung von mehreren Verbraucherinnen und Verbrauchern sowie Erzeugern modelliert werden, um die ersten Simulationsergebnisse einfacher, schneller und kostengünstiger berechnen zu können.

Ein empfohlenes schrittweises Vorgehen für die Erstellung eines digitalen Zwillings sieht folgendermaßen aus:

  • 1. Softwareauswahl: kommerzielle Software oder Open Source Software mit oder ohne Erweiterungen
  • 2. Daten: Prüfung der benötigten und vorhandenen Daten, der Datenformate und der Datenquellen. Dazu zählen beispielsweise:
    • a. Vektordaten und Attributierungen (Punkte, Linien, Flächen): x-, y- und z-Koordinaten der Leitungen, zum Beispiel: „Wie tief wurde eine Leitung verlegt?“
    • b. Rasterdaten beziehungsweise Befliegungsbilder von Häusern, Straßen etc.

i. Bilddatenformate wie PNG, JPEG etc. von beispielsweise WMS-Diensten

  • c. Technische Daten und Zeitreihen, unter anderem Messwerte der Messgeräte und Zähler der Einspeiser und Verbraucher in kWh, Wirkleistung in kW, Spannung in V, Ströme in A, Temperatur in Celsius etc.
  • 3. Machbarkeitsanalyse: Fehlen Daten oder sind die vorhandenen Daten ausreichend für ein funktionsfähiges Produkt?
  • 4. Visualisierung von:
    • a. Geodaten – gegebenenfalls in mehreren Layern
    • b. Technischen Daten, wie Stromverbräuchen etc.
    • 5. Simulationen und Berechnungen durchführen
    • 6. Feedback einholen und das Produkt verbessern

Anwendungsfälle von digitalen Zwillingen für Verteilnetzbetreiber:

  • 1. Netzanschlussanträge schneller bearbeiten – beispielsweise für Photovoltaikanlagen, Wärmepumpen, Wallboxen
  • 2. Analyse für die ideale Anzahl und die idealen Standorte von Messgeräten (welche haben den größten Mehrwert?), um zum Beispiel mit den Daten auf das restliche Niederspannungsnetz zu schließen
  • 3. Herausfinden kritischer Netzelemente nach einer Simulation von erwartbarer zukünftiger Stromerzeugung beziehungsweise von erwartbarem zukünftigem Stromverbrauch und Empfehlungen für die strategische Netzplanung (zum Beispiel, welche Netzbereiche vorerst für Photovoltaikanlagen gesperrt werden)

Ausblick

Digitale Zwillinge für Verteilnetzbetreiber können beliebig mit neuen Schichten (Layer) angereichert werden, um diese mit weiteren Daten und Analysen zu erweitern. Beispiele dafür sind die Sektorkopplung, Smart Grids und die Optimierung mehrerer Infrastruktursparten wie Strom, Wärme, Gas, Wasserstoff, Wasser oder Abwasser. Darüber hinaus gibt es für digitale Zwillinge viele weitere Einsatzmöglichkeiten in der Energiewirtschaft – zum Beispiel für Simulationen von Windparks oder die vorausschauende Wartung. Digitale Zwillinge im Gebäudebereich sind besonders für die Immobilienbewirtschaftung, das Energiemanagement und die Bauwirtschaft bedeutsam. Daten und die Kombination von (mehreren) digitalen Zwillingen werden im Hinblick auf die kommunale Wärmeplanung, die Raumordnung und das Thema Smart Citys immer relevanter.

Bild Adrian Horn

Autor Adrian Horn

Adrian Horn arbeitet seit Januar 2023 bei adesso. Seine Schwerpunkte liegen derzeit im Requirements Engineering und im agilen Projektmanagement. Nach seinem Bachelorstudium der Geoinformatik wechselte Adrian bewusst in den Studiengang Wirtschaftsinformatik, um sein technisches Wissen mit betriebswirtschaftlichen Kenntnissen zu kombinieren. Zu seinen technischen Kernkompetenzen zählen der Einsatz von Geoinformationssystemen und die Entwicklung modularer Erweiterungen mit Python sowie die Softwareentwicklung mit den Webtechnologien HTML, CSS und JavaScript.

Diese Seite speichern. Diese Seite entfernen.