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Der 1986 in der Harvard Business Review erschienene Artikel „The New New Product Development Game“ von Takeuchi und Nonaka löste bei Ingenieur:innen auf der ganzen Welt Begeisterungsstürme aus: der Systemwechsel vom „Staffellauf“ zum „Rugby“ (damalige Metapher), inspirierte Sutherland & Co. im Jahre 2001 zur Modellierung des heutigen Scrum-Ansatzes.

„Agilität“ wird in der Organisationsberatung und modernen Softwareentwicklung oft als Wunderwaffe für effiziente Unternehmensprozesse, qualitativ hochstehende Software, zufriedene Kund:innen und glückliche Mitarbeitende gepriesen. Aber entspricht dies tatsächlich der Realität? Können mittels Agilität tatsächlich alle Stakeholder eines unternehmerischen Spannungsfelds auf einen zufriedenstellenden Nenner gebracht werden? Und kann Agilität überhaupt in allen Unternehmensbereichen eingeführt werden und dabei das volle Potenzial entfalten?

The Good?

Beginnen wir mit den guten Ansätzen und Fakten: Agilität oder eine agile Softwareentwicklung hat im Schweizer ICT-Markt seit 2010 enorm an Bedeutung gewonnen. Zahlreiche Projekte werden heutzutage im agilen (oder zumindest hybriden) Kontext aufgesetzt, während Bau- oder Grossprojekte noch unverändert im klassischen Stil geplant werden. Also richten wir unseren Fokus in diesem Beitrag auf den Bereich der Softwareentwicklung.

Trotz des jahrelangen Erfolges wird die Bedeutung des Begriffs „Agilität“ sehr breit ausgelegt, was die Vergleichbarkeit und statistische Erfolgsbilanz vielleicht etwas trüben könnte. Allerdings verwundert dies nicht weiter, da dieser Begriff weder international genormt noch für eine praktische Einführung standardisiert wurde. Zwar deuten weiterführende Konzepte wie Scrum, Feature Teams oder SAFe in der modernen Managementphilosophie darauf hin, dass zumindest ein kund:innenzentriertes, holokratisches und virtuelles Organisationsmodell initiiert wurde, damit iterativ, inkrementell und qualitativ gute Software für die Kund:innen erstellt werden könnte, aber ein Garant dafür sind diese leider auch nicht.

Man muss den agilen Modellen allerdings stark zugutehalten, dass sie die Arbeitsweisen zwischen Fachbereichen und IT-Entwicklungen massgeblich positiv beeinflusst haben und sich nach den folgenden löblichen vier Grundsätzen ausrichten:

  • Agile Organisationen sind offen gegenüber Veränderungen, setzen den organisatorischen Wandel rasch um und beweisen damit eine gewisse Affinität zum Konzept der lernenden Organisation
  • Kund:innen werden zu Partner:innen oder Mitwirkende und geben die strategische Ausrichtung massgeblich vor
  • Das Team verfügt über eine effektive Kommunikationsform, welche es jedem Mitglied erlaubt, sich ausreichend auszutauschen und rasch Entscheidungen für die nachfolgende Umsetzung zu treffen
  • Die Selbstorganisation nimmt in diesem Kontext eine sehr zentrale Rolle ein. Das Team entscheidet autonom über kund:innenrelevante Ausprägungen und bestimmt damit selbst das unternehmerische Handeln am Markt
The Bad?

Doch leider wird der Zielerreichung dieser Dogmen kaum Beachtung geschenkt. Unkritisch und unreflektiert wird dem Agilitätstrend meist blind vertraut. Zwar ist es tatsächlich bei gewissen Faktoren schwierig, nachzumessen, inwieweit sich diese Ideale tatsächlich praktisch manifestiert haben, zum Beispiel, weil die Stakeholder nicht immer vollkommen transparentes Feedback geben oder weil nicht alle Mitarbeitenden jeden Tag gleich intrinsisch motiviert sind, etc. Damit in einem solchen Fall ein gemeinsamer Nenner erreicht werden kann, bräuchte es eine offene, engmaschige Feedback-Kultur mit einem vereinbarten Entscheidungsmechanismus (zum Beispiel ein Mehrheitsprinzip, Konsens oder Konsent). Doch dieser Bereich einer Konflikt- respektive Lösungssuche wird in der Agilitätstheorie gerne ausgeschwiegen.

Betrachtet man die genannten vier Prinzipien auch noch aus einer betriebswirtschaftlichen Perspektive, so fallen den geneigten Leser:innen sicherlich gewisse Ähnlichkeiten zu Konzepten wie Lean Management, Total Quality Management (TQM) oder Kaizen auf. Es stellt sich daher die vielleicht ketzerische Frage: Wie neu ist der Anspruch der Agilität denn überhaupt? Und ist er nicht vielmehr ein „alter Wein in neuen Schläuchen“-Effekt? Vielleicht ein Anstoss, um das müde Beratungsgeschäft neu zu beleben? „Ein Schelm, wer Böses denkt“, würde König Edward III von England sagen.

…and the Ugly!

Zwar erweisen sich die unternehmensweiten (agilen) Zusammenarbeitsformen kurzfristig als produktiver und aus Kund:innensicht als zufriedenstellender – aber bei genauerer Betrachtungsweise erkennt man auch rasch deren Grenzen, sprich, sie können aufgrund anderer Unternehmensvorgaben wie Compliance, Datenschutz, Standards auch nur punktuell funktionieren. Und selbst da, wo keine Spannungsfelder mit regulatorischen Vorgaben bestehen würden, wird Agilität nur isoliert einzelnen Unternehmensbereichen indoktriniert, vorzugsweise der IT. Nicht etwa, weil sich die IT nicht selbst gegen Organisationsexperimente wehren könnte, sondern, weil sie aufgrund ihrer Geschäftsnatur bereits eine hohe Flexibilität, Einsatzbereitschaft und experimentelle Neugierde mitbringt.

Und wie bei jedem neuen Organisationsmodell, weisen auch Scrum & Co. gewisses Missbrauchspotenzial auf. So benannte zum Beispiel Ron Jeffries 2016 in seinem Beitrag „Dark Scrum“ die Tatsache, dass das Modell gerne zur methodischen Kontrolle und Unterdrückung von Teams missbraucht wird, als „Dark Scrum“. Auch fällt auf, dass in der unternehmerischen Praxis eher (hybride) Mischformen zum Einsatz kommen, da gewisse Finanz- und Unternehmensprozesse unverändert sequenziell ablaufen, wie beispielsweise Finanzfreigaben nach Geschäfts- und Zuständigkeitsordnungen, Budgetplanungsprozesse oder Gremienabstimmungen. Ein weiteres, sehr prominentes Beispiel einer solchen hybriden Mischform ist das Projektmanagement nach HERMES von 2022, welches in bundesnahen Betrieben sehr gerne zum Einsatz kommt und auch in der Schweizer Privatwirtschaft zunehmend im kleinen bis mittleren Unternehmenssektor seine Akzeptanz findet.

Wer nun denkt, mit der Holokratie und Agilität seien gewisse Problematiken eines Machtgefüges entschwunden, wird wahrscheinlich enttäuscht. Denn selbst, wenn die formelle Machtstruktur in virtuellen oder temporären Teams verwischt wurde, so bleiben Anteile der informellen Macht unverändert auch in den agilen Teams bestehen. Sei dies gewisse Verhaltensweisen ehemaliger Alphatiere, die Überforderung von Schlüsselpersonen oder eben auch Verlustängste ehemaliger Manager:innen (z. B. Lohneinbussen, Statusverlust, etc.). Folglich geht es in der Agilität weniger um die Methodik per se, als um einen fundamentalen Kulturwandel, für welchen wir die Konzepte von Kotter, Lewin oder Krüger zu Rate ziehen könnten. Aber dieser stetige und steinige Wandel eines Change-Managements ist auch wieder auf einem ganz anderen Blatt beschrieben…

So what?

Wenn man also die Grundsätze der Agilität kaum mit harten Fakten nachmessen kann und es für disperse Stakeholdergruppen wiederum nur um eine Kompromisslösung geht, worin besteht dann schlussendlich der Mehrwert einer Agilität?

Antwort: in der pragmatischen Umsetzung innerhalb des jeweiligen Unternehmenskontextes. Scrum, Kanban, TQM, usw. sind alles nur Leitfäden einer Organisationstheorie, welche für jedes Unternehmen, jeden Fachbereich, jedes virtuelle Team individuell angepasst werden sollten. Denn einerseits spielen der jeweilige Aufgabenbereich, die vorhanden Skills und die Team-Maturität eine massgebliche Rolle, aber andererseits auch die unternehmerische Legislative in der schlussendlichen Team-Ausgestaltung, der Stakeholder-Dynamik sowie in der Output-Performance.

Fazit

Als agiler Leader in der heutigen Zeit sollte man daher den Mut aufbringen, die Passgenauigkeit verschiedener Konzepte schrittweise pragmatisch zu erproben. Denn mit Hilfe der Fülle an (unmodernen) Theorien und Grundsätzen aus der Betriebswirtschaft und Organisationspsychologie lässt sich hierzu leicht ein individuelles Konzept für eine Unternehmung entwickeln und bis zur perfekten Performance umformen! Denn wie sagte einst Heraklit: „Nichts ist so beständig wie der Wandel.“

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Bild Sascha Aebi

Autor Sascha Aebi

Sascha Aebi ist als Head of Business Development T&L seit fast fünf Jahren bei der adesso Schweiz AG in der Line of Business Transportation & Logistics tätig. Seine Spezialgebiete sind die digitale Transformation, Management Consulting sowie Leadership.

Kategorie:

Digital Experience

Schlagwörter:

Agilität

Scrum

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