Menschen von oben fotografiert, die an einem Tisch sitzen.

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Risikoidentifikation

„Gehen eine Physikerin, ein Raketenwissenschaftler und ein Arzt in die Kantine“ – das klingt wie der Anfang eines mittelmäßig lustigen Witzes, ist aber gleichzeitig Alltag in jeder großen Rückversicherung. Wieso ist Interdisziplinarität derart wichtig? Rückversicherer tragen das Risiko für nahezu alles, vom Bau großer Dämme bis hin zum Raketenstart in Florida. „Risiko tragen“, das bedeutet, dass Rückversicherer eine Prämie für ein Portfolio eines Erstversicherers oder große Einzelrisiken berechnen und, sollte ein Vertrag zustande kommen und ein Schaden eintreten, diesen dann regulieren. Dabei ist die Existenzgrundlage des Rückversicherers, dass die eingegangenen Prämien in Summe über alle Policen höher sind als die zu regulierenden Schäden. Dafür muss der Rückversicherer das Geschäft seiner Kunden kennen. Und das geht am besten mit interdisziplinären Teams, die Risiken von verschiedensten Standpunkten betrachten können. Deswegen ist es dann nicht untypisch, wenn ein Biologe im Büro neben einer Bergbauingenieurin sitzt.

Risiko = Eintrittswahrscheinlichkeit x Schadenhöhe

Wenn ein Rückversicherer ein neues Business zur Zeichnung angeboten bekommt, beginnt bei ihm stark vereinfacht gesagt ein riesiges Brainstorming, in dem definiert wird, welche ökonomischen Folgen eine mögliche Übernahme des Risikos für die Rückversicherungsgesellschaft haben kann – vereinfacht ausgedrückt, ob die Schadeneintrittswahrscheinlichkeit des Risikos im Bereich des Risikoappetits liegt. Das ist eine ähnliche Situation, wie wir sie in Deutschland Anfang 2020 hatten. Ein neuartiges Virus taucht auf, die ersten Menschen liegen auf der Intensivstation und wir müssen als Gesellschaft überlegen: In welchen Bereichen ist die Gefahr einer Übertragung hoch und welche Maßnahmen werden daraus abgeleitet, um Infektionen zu verhindern? Ein hilfreiches Werkzeug zur einfachen Orientierung kann hier eine Risikomatrix darstellen. Dabei trägt man die Eintrittswahrscheinlichkeit gegen das Schadenausmaß auf, im Fall von Corona die Infektionswahrscheinlichkeit für den Einzelnen gegen die Inzidenzsteigerung. In nachfolgender Grafik verdeutlicht mit ein paar Beispielen, die gesellschaftlich in den ersten Pandemiemonaten heiß diskutiert wurden. Die Einordnung der Aktivitäten erfolgte mangels Datengrundlage nicht auf Basis realer Zahlen, sondern rein nach der Einschätzung des Autors.

Die Einordnung verschiedener Risiken frei nach Einschätzung des Autors kann folgendermaßen erklärt werden:

a: Beim Lesen eines Buches allein auf einer Parkbank ist eine Infektion recht unwahrscheinlich; da tendenziell wenige Menschen alleine Bücher auf Bänken lesen, ist das Schadenausmaß gesellschaftlich gesehen gering. Ein niedriges Risiko ergibt sich.

b: Beim Joggen kommt man wenig in Kontakt mit anderen Menschen, die Ansteckungswahrscheinlichkeit ist gering, jedoch joggen sehr viele Menschen, weswegen das Schadenausmaß etwas höher sein könnte. Das Risiko ist damit eher gering.

c: Fitnessstudios sind geschlossene Räume mit engen Umkleidekabinen, entsprechend ist das Risiko von Infektionen höher als beim Joggen. In Fitnessstudios gehen ähnlich viele Menschen wie zum Joggen, entsprechend ist das Ausmaß in etwa gleich. Daraus ergibt sich ein mittleres Risiko.

d: Biergärten sind unter freiem Himmel, die Ansteckungswahrscheinlichkeit ist entsprechend mittel. Sehr viele Menschen gehen in Biergärten, somit ist das Schadenausmaß hoch. Daraus ergibt sich ein hohes Risiko.

e: Diskotheken sind geschlossene Räume mit wenig Platz pro Besucher, die Wahrscheinlichkeit einer Infektion ist hoch. Sehr viele Menschen gehen in Diskotheken, entsprechend ergibt sich ein sehr hohes Risiko.

Risikobewertung

Sobald ein Rückversicherer die Risiken seines potenziellen Kunden identifiziert und einige davon direkt wieder aus dem Scope genommen hat – wie im obigen Beispiel die alleine auf der Parkbank sitzende Leseratte –, muss er die Risiken bewerten. Das wichtigste Werkzeug dafür ist Statistik, also die Berechnung von Schadenerwartungswerten auf der Grundlage von Daten bereits eingetretener Schäden. Das ist auch der Grund, aus dem vor wenigen Jahren kaum jemand E-Roller-Fahrerinnen und -Fahrer versichern wollte. Die Versicherer taten sich mangels Schadendaten schwer, das Risiko adäquat zu bewerten.

Rückversicherer sind entsprechend Vorreiter im Sammeln und in der Interpretation von Daten zu verschiedensten Themen. Und wir adessi helfen dabei mit verschiedensten Mitteln. Sei es bei der Digitalisierung verstaubter Akten, beim Heben alter Datenbanken in die Cloud, bei der Auswertung mit Machine Learning, der automatischen Verarbeitung mittels Machine Learning oder der Visualisierung in einem CRM.

Rückversicherungen verfügen häufig über einen riesigen Datenschatz mit Informationen zu verschiedensten Themen. Denn ein Rückversicherer muss eine ausreichende Datenbasis haben, um das Risiko eines Kunden mit hoher Sicherheit abzuschätzen und damit eine Basisrate berechnen zu können. Er nutzt die Basisrate, um die niedrigste mögliche Prämie zu berechnen. Die muss er bekommen, um ein Risiko zu zeichnen, ohne selbst Verlust zu machen. Bezogen auf Corona sind viele Werte als Basisrate denkbar. In den letzten zwei Jahren wurden nahezu alle mindestens einmal ausprobiert. Je nach aktueller Bekämpfungsstrategie nutzte man den R-Wert, die Inzidenz in Bezug auf die Kapazitätsgrenze der Kontaktnachverfolgung, die Intensivbettenauslastung und seit Neuestem die Hospitalisierungsinzidenz.

Die eigentliche Schwierigkeit ist jedoch nicht die Berechnung einer Basisrate, sondern Daten korrekt zu erfassen und hinreichend zu verstehen, um zuverlässige Aussagen über mögliche und wahrscheinliche Entwicklungen zu treffen. Es ist also wichtig herauszufinden, wo sich Menschen wie oft unter welchen Umständen anstecken. Welche Daten erfasst werden müssen, dazu muss man sich sehr früh Gedanken machen, denn je mehr und länger man sammelt, desto besser kann man später Muster erkennen.

Hat man keine Daten, kann man nicht versichern oder – sogar noch schlimmer – man muss Polizistinnen und Polizisten, die sich ihren Job sicher ganz anders vorgestellt hatten, auf beschneite Hügel stellen, um Familien, die den Kindern einen Rodeltag an der frischen Luft gönnen wollten, nach Hause zu schicken.

Risikominderung

Wer noch nicht näher mit Rückversicherungen zu tun hatte, denkt wahrscheinlich, dass die Arbeit einer Rückversicherung aufhört, wenn sie eine Prämie festgelegt hat, mit der sie nach ihren Berechnungen einen saftigen Gewinn einfährt. Letztlich ist eine Rückversicherung aber ein Konzern mit viel Eigenkapital, der Risikotransfer von Versicherungen und größeren Unternehmen anbietet. In Zeiten des „billigen“ Geldes haben diese jedoch selbst häufig genug in der Reserve. Die Rückversicherer müssen also ihre Prämien in Verbindung mit Services so attraktiv gestalten, dass ihre Kunden aufmerksam werden. Dies kann nur wirtschaftlich sein, wenn Risiken gesenkt werden. Mehr darüber findet sich im Beitrag „Rückversicherung, vom Risikoträger zum Serviceleister“ meines Kollegen Steen Nel Schwerdtfeger.

Rückversicherer haben jahrhundertelange Erfahrung mit Risiken und so ist es nur logisch, dass sie über die Zeit einen beachtlichen Fundus an Techniken aufgebaut haben, mit denen Risiken systematisch gemindert werden können. Ein prominentes Beispiel vor allem aus industriellen Großrisiken ist die Konzeption von Trigger Action Response Plans, ein Werkzeug aus dem Katastrophenmanagement. Das sind hochkomplexe, einfach verständliche Ablaufpläne, die für unfallgefährdete Industriezweige wie zum Beispiel Atomkraftwerke oder Bergbauunternehmen konzipiert werden. Dort weiß man seit Jahrzehnten um die Gefahren, die damit einhergehen, Menschen unter hohem Druck Entscheidungen treffen zu lassen. Häufig dauert dies lang, keiner will verantwortlich sein. Und derjenige, der dann doch die Entscheidung trifft, hat oftmals nicht die beste Idee, sondern will sich mit einer Entscheidung profilieren. Und dann kann es mitunter eben auch zur Kernschmelze kommen. Deswegen wurden für solche Unternehmungen technische Messwerte (Trigger) definiert, bei deren Überschreitung bestimmte vordefinierte Handlungen (Actions) als Reaktion (Response) ausgeführt werden. Damit wird der Druck zur Entscheidungsfindung aus Notsituationen herausgelöst und es ist gewährleistet, dass alle mit der größtmöglichen Effizienz ohne Kompetenzgerangel gemeinsam an der Problemlösung arbeiten.

Wie solche Pläne im Fall von Corona hilfreich sein können, liegt wahrscheinlich nach den letzten zwei Jahren auf der Hand. Es lassen sich Stufen beispielsweise für volle Intensivstationen definieren, nach denen ohne vorherige Konferenzen etc. gehandelt werden muss. Der Plan lässt sich mit der Zeit verfeinern, um gezielt tatsächliche Infektionsherde zu schließen. Falls die Datenlage also ergibt, dass Übertragungen in Diskotheken häufig sind, wird dort ab einer bestimmten Stufe beispielsweise zunächst die Masken- und Testpflicht eingeführt und im Fall von weiterem Steigen der Zahlen müssen die Diskotheken schließen, andere Orte bleiben aber geöffnet. Ein weiteres Beispiel kann die Entdeckung einer neuen Virusmutation in einem Land sein (Achtung, stark vereinfacht):

Rückversicherungen haben über die Zeit beachtliche Methoden zum Erkennen, Bewerten und Reduzieren oder gar Vermeiden von Risiken aufgebaut. Viele solcher Methoden könnten uns im täglichen Pandemieleben als Ergänzung zu den Empfehlungen des RKI helfen, um mehr Transparenz zu schaffen und damit Verständnis und Akzeptanz für verschiedene Maßnahmen bei der Bevölkerung zu stärken und der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft entgegenzuwirken. Und vor allem auch um die Krankheit zielgenauer zu bekämpfen und damit mehr Freiheiten für alle zurückzugewinnen.

Bild Christian Sauer

Autor Christian Sauer

Christian Sauer ist Managing Consultant bei adesso. Er beschäftigt sich seit sechs Jahren in verschiedenen Projekten bei Erst- und Rückversicherern mit den Themen Big Data Analytics, Data Management, Data Warehouses und KI. Der studierte Naturwissenschaftler fand seinen Einstieg in die Versicherungswirtschaft im fakultativen Underwriting und entwickelt heute gemeinsam mit der adesso Community of Practice Reinsurance zukunftsweisende Lösungen für Underwriterinnen und Underwriter.

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